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Reviewed by:
  • Drama als Störung: Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas by Teresa Kovacs
  • Britta Kallin
Teresa Kovacs, Drama als Störung: Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Bielefeld: Transcript, 2016. 313 S.

Diese als Buch herausgegebene Dissertation ist eine ausgezeichnete kultur- und literaturwissenschaftliche Arbeit. Die Autorin Teresa Kovacs, die über Jahre bei der Elfriede Jelinek-Plattform an der Universität Wien mitarbeitete [End Page 143] und dort einen besonders guten Einblick in Jelineks Werk und den Forschungsstand dazu bekam, stellt in ihrer Untersuchung fest, dass Jelinek mit dem Konzept “Sekundärdrama”, wie sie zwei ihrer Stücke in Interviews und Essays selbst bezeichnet, die “Ästhetik der Störung” weiterentwickelt, um traditionell anerkannte Aspekte der westlichen Kultur, Literatur- und Gendergeschichte zu hinterfragen.

Kovacs beschreibt den letzten Stand der Forschung, bei der es um die Brauchbarkeit und Anwendbarkeit des Begriffs “Störung” als ästhetische und politische Strategie geht. Sie erläutert Theorien aus der Kommunikations-, Medien-, Kultur- und Informationswissenschaft sowie der Systemtheorie und der Kybernetik. Sie zeigt Überlappungen und Unterschiede von Störungen, Rauschen, Paradoxen, Palimpsesten, Paratexten, Intertexten, dem Parasitären und der Dekonstruktion auf und unterstreicht das subversive Potential all dieser künstlerischen Methoden. Kovacs analysiert auf überzeugende Weise und mit viel Sprachtalent, wie die Dramen von Elfriede Jelinek als Sprachflächen, Textflächen bzw. rhizomatische Textstrukturen untersucht werden können, um alle Ebenen der Texte und deren Aussagen zu verstehen und sinnvoll einzuordnen.

Sie setzt sich mit Walter Benjamins historischem Materialismus und dem alinearen Geschichtskonzepts in Jelineks Dramen genauso auseinander wie mit Homi Bhabhas Konzept der leeren Mitte, die ein Nicht-Vorhandensein, ein Zwischen beschreibt, und es daher erst möglich wird, auch gesellschaftliche Situationen und Geschichten der Unterdrückten nachzuvollziehen. Drama als Störung deckt auf, wie Jelineks Texte hegemoniale Gewalt, phallozentrisches Denken, die Verknüpfung von Kapitalismus und dem Patriarchat sowie althergebrachte Machtstrukturen in der Literaturgeschichte ans Licht bringen.

Die Untersuchung konzentriert sich auf zwei Sekundärdramen: Abraumhalde (2009) und FaustIn and Out (2011). Jelinek schrieb beide Stücke als Auftragswerke und Reaktion auf Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise und Johann Wolfgang von Goethes Urfaust. Jelineks zwei Stücke dürfen laut Autorin nur in Verbindung mit den Primärdramen auf staatlichen Bühnen aufgeführt werden. Die Motive in Lessings Nathan und Goethes Urfaust gehen auf Geld, Gold, Religion und Familie zurück, wobei Kovacs sehr deutlich herausarbeitet, dass die Familie seit dem 18. Jahrhundert zur Ware wurde, und Religion weiter die Macht übernahm und das Geld bzw. Gold verwaltete. Mit “Sekundärdrama” bedient sich Jelinek [End Page 144] absichtlich und auf provokative Weise eines Terminus, der ihre Werke in den Hintergrund dieser von Männern verfassten Dramen stellt, um Unterschiede in der Rezeption von Theaterstücken, die von Männern und die von Frauen geschrieben wurden, aufzuzeigen und um den anerkannten, rassistischen und sexistischen Literaturkanon zu hinterfragen. Während die “klassischen” Primärdramen regelmäßig auf deutschsprachigen Bühnen zur Aufführung kommen, werden zeitgenössische Stücke von Frauen noch immer sehr selten aufgeführt.

Kovacs bezieht Ergebnisse der feministischen Literatur- und Theaterwissenschaft und neuerer Erkenntnisse der Queer Studies mit ein. Untersuchungen von Frauen(rollen) im Theater(betrieb) zeigen, wie “genderspezifische VerUneindeutigungen” einen wichtigen Teil von Jelineks Oeuvre ausmachen. Außerdem analysiert Kovacs Texte von PhilosophInnen, um herauszuarbeiten, wie Jelinek deren Konzepte von Geschlecht, Zeit und Geschichte in ihre Texte einarbeitet, wobei Kovacs auch auf Ideen zur Postdramatik und Studien zum nicht-mehr-dramatischen Text eingeht.

Kovacs arbeitet weiter heraus, wie die zwei Sekundärdramen sich mit der veränderten Situation der Familienhierachie im 18. Jahrhundert auseinandersetzen, da die Aufklärung und damit die Ideen von Toleranz und Gleichheit auch immer einen Ausschluss von Gruppen miteinbezog. So wurden Frauen und Arme nicht mit Bürgerrechten beglückt, sondern mussten lange unterdrückt ihr Schicksal hinnehmen ohne gleiche Rechte zu erhalten. Die Frau als solche wurde in der Kunst und der westlichen Kultur über die letzten Jahrhunderte meistens als “tot”, als “krank”, als “Nachahmende”, als “Objekt”, als “das Andere” konzipiert, die Frau als Kunstschaffende wurde stets unsichtbar gemacht, während der Mann sich als “Norm”, als “Künstler” und “Subjekt” zum Genie entfalten konnte, dem die Macht zustand, die er über Frau, Kinder...

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