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  • Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900 Herausgegeben von Thorsten Carstensen, Marcel Schmid
  • Peter Keitel
Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900.
Herausgegeben von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid. Bielefeld: transcript, 2016. 352Seiten. €39,99.

An Publikationen zur Lebensreform (1890–1933), ihren Einflüssen und Auswirkungen in Deutschland mangelt es nicht. Daher ist es nicht leicht, dieser Periode der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte neue oder unbekannte Aspekte abgewinnen zu wollen. Vorliegender Band will einen solchen Beitrag leisten, allerdings nicht zu Perspektiven der Lebensreformbewegung, sondern zum einen als generelle ,,Einführung in die ,Literatur der Lebensreform‘“ und zum anderen als ,,Versuch, einer vorherrschenden literaturhistorischen Gewichtung zu begegnen.“ (16) ,,Losgelöst vom epochengeschichtlichen Denken,“ betonen die Herausgeber, sollen vor dem Hintergrund lebensreformerischer Bestrebungen bisher angeblich ,,vernachlässigte Gemeinsamkeiten“ (16) in der Literatur im Zeitraum von etwa 1880 bis 1950 und am Beispiel ausgewählter Werke und Autoren – wie Franz Kafka, Hermann Hesse, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke oder Gerhart Hauptmann – aufgedeckt werden, ohne dabei in die ,,übliche Literaturkategorisierung zurückzufallen“ (25). Daneben finden sich ebenfalls Aufsätze zu spezifischen lebensreformerischen Autoren wie Wilhelm Speyer, Heinrich Pudor oder Reinhold Gerling. Auch wenn die Herausgeber klar stellen, dass der Band keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, bleibt unverständlich, warum trotz ,,manch feministischer Tendenzen“ (25) im Umfeld der Lebensreform vielgelesene Werke von Autorinnen wie Lely Kempin, Gertrud Prellwitz oder Helene Christaller oder einflussreiche Werke von Körper- und Sexualreformerinnen wie Helene Stöcker, Bess Mensendieck oder Grete Meisel-Heß offenbar keiner ausführlichen Würdigung für wert befunden wurden.

Neben der recht kursorischen Einführung der Herausgeber, in der lediglich einige bedeutungsvolle lebensreformerische Werke erwähnt werden, erscheint auch die Aufteilung der Aufsätze in drei Abteilungen (,,Kontexte“, ,,Orte“ und ,,Autoren“) wenig überzeugend, da die Beiträge mehrheitlich auf Literaturdarstellungen basieren. Im Abschnitt ,,Kontexte“ werden ausgewählte Aspekte der Lebensreform präsentiert, wie etwa Körperlichkeit, Nacktheit, Sinnlichkeit, Zivilisationskritik, Ethik oder die bürgerliche Jugendbewegung. Der Literaturbegriff ist stets weit gefasst, wobei auch Zeit- und Programmschriften mit einbezogen werden. In der Abteilung ,,Orte“ stehen hingegen bekannte lebensreformerische Zentren wie der Monte Verità, der Harz oder die Ideenlandschaft Upland im Vordergrund der literarischen Analyse. Im Abschnitt ,,Autoren“ wird der Versuch unternommen, lebensreformerische Einflüsse in Werken von Gerhart Hauptmann über Rainer Maria Rilke und Franz Kafka bis zu Heimito von Doderer nachzuweisen. Alle Beiträgerinnen und Beiträger sowie die Herausgeber setzen in den insgesamt 16 Essays den Einfluss Nietzsches grundsätzlich voraus, ohne [End Page 485] dass dieser im Einzelfall historisch-dialektisch hinterfragt wird. Ähnliches ist auch zu jenen Werken zu sagen, deren Autoren gemeinhin zum Literaturkanon gezählt werden. Hier bietet der Band kaum Neues oder Unbekanntes, denn dass auch Autorinnen und Autoren, die nicht zum direkten Umfeld der Lebensreform gerechnet werden, von deren Ideen mitbeeinflusst wurden, ist ebenso wenig Geheimnis wie das dialektische Weiterwirken derartiger Konzepte in späteren Werken oder Perioden. Belastet ist der Band ferner durch die zum Teil erhebliche Anzahl von Fußnoten, wodurch die Lesbarkeit mancher Beiträge stark beeinträchtigt wird.

Positiv zu vermerken sind hingegen insbesondere solche Beiträge, die sich in erster Linie auf die Auswertung von Primärquellen beziehen oder die eine möglichst konkrete historische Einordnung der Lebensreform anstreben. So gelingt es Thomas Rohkrämer, den Kontext der vielfältigen Lebensreformbewegungen auf knappe und zugleich überzeugende Weise nachzuzeichnen, ohne dabei lediglich Bekanntes zu wiederholen. Zuzustimmen ist der Einschätzung, dass den Bewegungen schon lange vor 1933 das Ende der “kulturelle[n] Vorreiterrolle” (42) bescheinigt werden kann, obwohl sich die Bedeutung mancher Konzepte (ökologisches Bewusstsein, Naturheilkunde, Vegetarismus, individuelle Selbstentfaltung usw.) nach 1945 durchaus erhalten hat, allerdings unter völlig veränderten soziohistorischen Bedingungen.

Ebenso informativ sind die Aufsätze zu Reinhold Gerling, Heinrich Pudor und Wilhelm Speyer, weil in ihnen weniger bekannte Gesichtspunkte der Lebensreform herausgestellt werden. Die in Bezug auf Schönheit, Gesundheit und Natürlichkeit gebotene körperliche Ganzheitlichkeit zeichnet Christiane Barz anhand der Schriften Gerlings nach, um dadurch sowohl die aufklärerische Zielsetzung im Zusammenhang von Naturheilkunde und Gymnastik zu betonen als auch den lebensreformerischen Inhalt von Gerlings Programm gegen bloßen Kommerz und oberflächliche Modebestrebungen positiv abzugrenzen. Ein ebenso quellennahes Vorgehen...

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