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Reviewed by:
  • Walter Benjamin: Politisches Denken ed. by Christine Blättler and Christian Voller
  • Thomas Forrer (bio)
Christine Blättler and Christian Voller, eds. Walter Benjamin: Politisches Denken. Baden-Baden: Nomos, 2016. 307 pages.

In Zeiten deutlicher Verschiebungen im öffentlich-politischen Diskurs verbindet sich die Hinwendung auf Denker, deren politische Überlegungen die institutionalisierten Debatten kaum je mitbestimmt haben, mit einem gewissen Versprechen. Trotz seiner intensiven und weiter anhaltenden Rezeption seit der deutschen 68er-Bewegung ist Walter Benjamin ein solcher Denker geblieben. Die wenigen und manchmal knappen Äußerungen zum Staat, zur Politik und zum Politischen liegen zerstreut in seinen Schriften, und sie entfalten ihre Bedeutung erst im Rahmen der theologischen, geschichtsphilosophischen sowie der kunst- und kulturkritischen Auseinandersetzungen, in denen sie auftauchen. Diese eigentümlichen Verflechtungen raten nicht nur vom Versuch [End Page 786] ab, Benjamins Überlegungen für die praktische Politik aufzubereiten, die seit Platon immer auch Gegenstand der Philosophie gewesen ist; vielmehr erinnern sie daran, dass das Politische von den gesellschaftlichen Erfahrungen und den kulturellen Gehalten, die zu seiner Behandlung veranlassen, ohne weiteres nicht zu lösen ist. Wenn das Politische in diesem, durchaus materialistischen Sinne für "mittelbar" zu gelten hat, so liegt das Versprechen einer Beschäftigung mit Benjamin in einer Einstellung, die den Verhältnissen und Sachgehalten als politischen—gegenüber den herrschenden ideologischen Debatten—vermehrt Rechnung trägt.

Der vorliegende Sammelband, Walter Benjamin. Politisches Denken, herausgegeben von Christine Blättler und Christian Voller nimmt diese "Mittelbarkeit" zur Voraussetzung, um auf das Politische bei Walter Benjamin einzugehen. Für Benjamin wie für andere Exponenten der "Ersten Kulturwissenschaft" war politisches Denken, wie die Herausgeber bemerken, "wesentlich aus Beobachtungen an Alltagsdingen und -szenen, Konsumgütern und ihrem 'Schicksal', sowie der Auseinandersetzung mit neuen Technologien und den mit ihnen zusammenhängenden künstlerischen und literarischen Verfahren motiviert" (10). Dass dieser Zugang genauso als philosophisch gelten kann, führen die Herausgeber an einer Szene aus den Svendborger Tagebucheinträgen vor, in der Bertolt Brecht vor Benjamin "den Staat" (die Sowjet-Union) 'nachgemacht' habe, um gleichsam daran zu erinnern: "Der Staat soll verschwinden" (11). Die Paradoxie der kleinen Szene betrifft das gravierende Problem der marxistischen Legitimierung des stalinistischen Staates, aber sie rührt auch an die Frage der Darstellung, wie sie Benjamin in der Erkenntniskritischen Vorrede entwickelt hat und die durch sein ganzes Werk virulent bleibt. In der szenischen Darbietung lasse sich vermeiden, dass "'die Bekämpfung der Ideologie' selbst 'zu einer neuen Ideologie'" werde, wie die Herausgeber mit Benjamin argumentieren (11–12). Mittels Verfremdung und Unterbrechung—Techniken des epischen Theaters Brechts—wird das szenische Material einer neuen und anderen Lektüre ausgesetzt, die besonders dann ins Philosophische umzuschlagen vermag, wenn sie im Horizont grundlegender Problemstellungen, hier: der Legitimierung des Staates, stattfindet.

Ihren theoretischen Niederschlag finden Benjamins Verfahren der Darstellung und der Lektüre nicht zuletzt in der Spannung zwischen Materialismus, bzw. Marxismus und Theologie—und damit verbunden am bekannten intellektuellen Dreieck: Adorno, Scholem, Brecht—, in einer Spannung, die als Problem und Umschlagplatz zugleich den "diskontinuierlichen Zusammenhang politischer Fragen und Themenfelder" (19) in seinen Schriften stiftet. Wenn es in dem vorliegenden Band, wie Blättler und Voller erklären, darum gehe, "Benjamins Werk [. . .] als ein politisches zu interpretieren" (19), so soll daher keine Spaltung "in einen marxistischen und einen theologischen Anteil" (18) desselben fortgeschrieben werden. Das gilt seit einiger Zeit auch in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Benjamin-Forschung als Maxime. Ihr folgt die Gliederung des Bandes in die Abteilungen "Souveränität," "Gewalt" und "Geschichte," die vor allem auf drei Schriften Benjamins zurückgehen: [End Page 787] Ursprung des deutschen Trauerspiels (daraus die Abschnitte zur barocken Theorie der Souveränität), Zur Kritik der Gewalt und Über den Begriff der Geschichte. In ihnen kommen Benjamins politisch-philosophische Auseinandersetzungen ausnehmend deutlich zur Sprache.

Wie die "Mittelbarkeit" zunächst nach einer Erörterung der Sachgehalte und damit nach einem Kommentar verlangt, so setzt der Band mit einer Studie von Uwe Steiner ein, die das polit-philosophische Gedankenfeld in der Zeit von Benjamins "Wendung zum politischen Denken" (33) durchmisst. Anlass dazu gibt der Plan Benjamins, eine größere Studie unter dem Titel "Der wahre Politiker" zu verfassen. Da die Arbeit als verloren gilt, unternimmt Steiner eine voraussetzungsreiche hypothetische Rekonstruktion einiger Grundgedanken anhand von...

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