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  • Grenzüberschreitungen. Energie, Wunder und Gesetze. Das Okkulte als Weltanschauung und seine Manifestationen im Werk Arthur Schnitzlers by Gerd K. Schneider
  • Guy Stern
Gerd K. Schneider, Grenzüberschreitungen. Energie, Wunder und Gesetze. Das Okkulte als Weltanschauung und seine Manifestationen im Werk Arthur Schnitzlers. Wien: Praesens Verlag, 2014. 234S.

Die vorliegende Betrachtung des Okkulten in der Belletristik des 19. Jahrhunderts hätte zu kaum einem besseren Zeitpunkt als dem Hier und Heute erscheinen können. Was die Leser damals in Bann schlug, wiederholt sich—wohlgemerkt mit Variationen—unserer Tage. Die Anzeichen sind nicht zu übersehen: Eine Ausgabe der New York Times Book Review konzentriert sich auf die literarische Untergattung Vampire, Stephen King verstört seine Leser mit dem Roman Revival oder die Jugendbuch-Serie Harry Potter bringt uns eine alternative Welt mit Zaubereien und Verhexungen.

Ein gleiches Interesse, wie Gerd Schneider zu Anfang ausführt, herrschte im 19. Jahrhundert vor. Überzeugend eruiert der Verfasser die Motivation für die damalige okkulte Weltanschauung und was darunter verstanden wurde. Unter anderem war der moderne Okkultismus “das Resultat der Forschungsergebnisse [End Page 160] der Naturwissenschaften [. . .] die Forschungsergebnisse in der Physik ließen den Menschen noch zusätzlich an seiner metaphysischen Sicherheit zweifeln.” Dazu kommt, so Schneider, eine Art “Entkirchlichung” und eine neue Wertfindung. Besonders einleuchtend ist außerdem seine Feststellung, dass der vorwiegend in Deutschland und Österreich verbreitende Okkultismus auf den verlorenen Weltkrieg, die Inflation und das Versagen neuer Ideologien (etwa des Marxismus) zurückzuführen sei. Der Okkultismus war also auch eine Ablenkung oder ein Eskapismus der Kriegs-und Nachkriegskatastrophen.

Bei der detaillierten Eruierung nach einer gültigen Definition des Okkulten verweist Schneider auf die weitverzweigte Verästelung des Begriffs Okkultismus. Er ist ein “Sammelbegriff,” der sich von dem übersinnlichen Hellsehen bis hin zum Mythischen erstreckt. Allen gemeinsam ist, “dass bestimmte Ereignisse nicht mithilfe der bis jetzt erkannten Wirkungskräfte der Naturwissenschaft erklärt werden können.” Den Versuch früherer Analysen, zwischen fantastischen und okkulten Texten zu unterscheiden, übernimmt Schneider nicht, auch im Hinblick darauf, dass Schnitzler diese Begriffe gleichwertig benutzt.

Nach Vorstellung dieser Grundlagen konzentriert sich die Studie auf das Werk Schnitzlers. Zunächst gedeiht das zu einem Quellennachweis, besser gesagt zu einer Aufzeichnung der intellektuellen Begegnungen mit Personen (etwa mit Arthur Kaufmann) und Sachbüchern, beispielsweise mit den Werken C.G Jungs, weniger mit den Überlegungen Freuds. Diese Lektüre und diese Begegnungen führten zu Schnitzlers Beschäftigung mit dem Thema. Dabei wird klar, dass Schnitzlers Einstellung durchgehend als ambivalent zu bewerten ist. Die Kommunikation mit dem Totenreich lehnte er als Scharlatanerie ab; die Erzählung “Andreas Thamayers letzter Brief” eignet sich als Beispiel für seine Zerrissenheit. Er beschäftigt sich mit dem Thema der bis ins 19. Jahrhundert populären, längst veralteten “Telegonie,” d.h. der genetischen Nachwirkung einer vorhergehenden Begattung, ausgesprochen ironisch und kritisiert die Leichtgläubigkeit seiner Zeitgenossen.

Im zweiten Teil seiner Studie bringt Schneider entsprechende Beispiele für die meisten Spielarten des Okkulten mittels entsprechenden Textanalysen Schnitzlerscher Prosatexte. Er beschreibt in der Novelle Die Fremde okkulte Eigenschaften der Protagonistin. Sie kann sich in andere Zeitalter versetzen und in einem Traum die Zukunft voraussehen. In der Erzählung Leutnant Gustl ist es das mystische Damaskus-Erlebnis des Titelhelden, das [End Page 161] ihn zunächst zur Selbsterkenntnis führt, aber letztendlich nicht zu einer inneren Wandlung. Auf die Parallele zur tatsächlichen Umkehr von Paulus wird der Leser durch den Hinweis auf eine Komposition aufmerksam gemacht: In dem Konzert, das Leutnant Gustl vor seinem okkulten Erlebnis besucht, wird das Paulus Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdi rezitiert. Telepathie kommt zur Geltung, so Schneider, in der Erzählung Das Tagebuch der Redegonda. Und bei der Betrachtung einer weiteren Erzählung, Fräulein Else, gelingt ihm nicht nur eine Anknüpfung an das Okkulte in der Musik, sondern er verleiht auch dem Text dieser weithin bekannten Erzählung eine schlüssige Neuinterpretation.

Überhaupt ist es dem Buch anzurechnen, dass es oft Erkenntnisse verbreitet, die weit über das angekündigte Thema im Titel hinausgehen. Es ist eine Studie, die zu neuen Untersuchungen anregt. Was würde z.B. eine Untersuchung feststellen, die ein kurzes Aperçu von Schneider zum Ausgangspunkt wählt. “Wie okkult die deutsche...

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