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  • "Daseyn enthüllen":Zum mediengeschichtlichen Kontext von Friedrich Heinrich Jacobis Eduard Allwills Papiere
  • Monika Nenon

Mitte Februar 1774 schreibt Goethe an Sophie von La Roche: "Nach Düsseldorf kann und mag ich nicht, Sie wissen dass mirs mit gewissen Bekandtschafften geht wie mit gewissen Ländern, ich könnte hundertjahre Reisender seyn ohne Beruf dahin zu fühlen."1 Düsseldorf ist bekanntlich der Wohnsitz des ehemaligen Kaufmanns, Hofkammerrats und "homme de lettres" Friedrich Heinrich Jacobi und zeitweilig auch der seines Bruders Johann Georg Jacobi, die Goethe als repräsentative Vertreter der Empfindsamkeit wahrnimmt und die er in der verloren gegangenen Farce "Das Unglück der Jacobis" (1772) verspottet hatte. Die öffentliche Darstellung der Gefühle, wie sie im publizierten Briefwechsel von Johann Georg Jacobi und Johann Wilhelm Ludwig Gleim2 zum Ausdruck kommt, findet Goethe "prätenziös" und auch in den von Merck herausgegebenen Frankfurter Gelehrten Anzeigen, an denen Goethe mitarbeitet, werden die empfindsamen Kreise um Gleim kritisch behandelt. Trotzdem kommt es im Sommer 1774 während Goethes zweiter Rheinreise zu einer Annäherung der beiden Gegenpole, die in eine langjährige Freundschaft münden wird. Aufgrund der Vermittlung von Frauen im Umkreis Friedrich Heinrich Jacobis, zu denen Goethe in Frankfurt Kontakt hatte, wie Sophie von La Roche, Johanna Fahlmer und Betty Jacobi3 ändert Goethe seine Haltung, und so findet am 22. Juli 1774 in Elberfeld bzw. Düsseldorf eine erste Begegnung zwischen Goethe und Jacobi statt, die für beide in vielerlei Hinsicht folgenreich werden sollte. Im Folgenden möchte ich mich auf die Anfangsjahre 1774 bis 1780 der über 40-jährigen freundschaftlichen und doch zugleich spannungsreichen Beziehung konzentrieren. Es soll gezeigt werden, wie zwischen Goethe und Jacobi eine enge freundschaftliche Verbindung aufgenommen wird und welche Rolle neue mündliche und schriftliche Kommunikationsformen (Geselligkeit und Briefkultur) dabei spielen. Dabei wird sich erweisen, dass Goethe und Jacobi aktiv an der Empfindsamkeitskultur der Zeit teilnehmen, die ihnen aber auch problematisch wird, und dass daraus Anregungen zu produktiver, literarischer Gestaltung entstehen.4

Beginnen möchte ich zunächst mit der Skizzierung des geselligen Kreises im Hause Friedrich Heinrich Jacobi in Düsseldorf, das man mit Ulrike Weckel5 als "offenes Haus" bezeichnen kann. Dieser zwischen privater und öffentlicher Sphäre angesiedelte Ort wurde zu einem intellektuellen Anziehungspunkt [End Page 155] für viele literarisch–kulturell Interessierte, Schriftsteller und Gelehrte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um Friedrich Heinrich Jacobi besteht nämlich eine aus Familienmitgliedern, Freunden und Schriftstellerkollegen sich zusammensetzende Lebensgemeinschaft, die zahlreiche Besucher anlockte und deren gesellige Aktivitäten für das 18. Jahrhundert Kulturbedeutung hatten.6 In Düsseldorf und vor allem in seinem Sommersitz in Pempelfort lebt Friedrich Heinrich Jacobi nicht nur mit seiner Frau Elisabeth, geb. Clermont und seinen Kindern, sondern auch mit seinen zwei Stiefschwestern Lotte und Lene und zeitweilig (bis 1772) auch mit der Stiefschwester seiner Mutter—Johanna Fahlmer—zusammen, die aber vier Jahre jünger war als er und das "Täntchen" genannt wurde. Darüber hinaus wohnten dort auch für einige Zeit sein Bruder Johann Georg Jacobi und Wilhelm Heinse (1774–86), den Jacobi finanziell unterstützte und als Mitarbeiter bei dem von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Journal "Iris" (1774–76) beschäftigte. Bei den geselligen Zusammenkünften dieser Gemeinschaft entfaltete sich eine an literarisch-philosophischen Themen interessierte gesellige Gesprächskultur, die über Jahre viele Intellektuelle anziehen sollte, wie z.B. Sophie von La Roche, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann, Johann Bernhard Basedow, Johann Caspar Lavater, Denis Diderot, Jean François de La Harpe, Anne-Louise-Germaine Staël-Holstein, Jacques Necker, Friedrich Müller, Christian Graf von Stolberg, Friedrich Leopold Graf von Stolberg, Georg Forster, Christian Dohm, Wilhelm von Humboldt und viele andere. Jacobi bot zahlreichen Gästen auch Aufnahme in seinem Haus und großzügige Bewirtung an. In diesem Kreis fanden anregende Gespräche über die zeitgenössische Literatur und Philosophie statt oder man rezipierte gemeinsam mündlich vorgetragene Auszüge aus literarischen Werken oder Briefen. Spaziergänge im sorgfältig angelegten Garten englischen Stils sowie Ausflüge in die Natur gehörten ebenso zur Geselligkeitskultur wie die Hausmusik, das szenische Vortragen von Geschichten oder die gesellige Unterhaltung durch Spiele...

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