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Reviewed by:
  • Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater by Christina Schmidt
  • Marielle Silhouette (bio)
Christina Schmidt. Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript Verlag, 2010, 374Seiten.

Wer sich mit Einar Schleef und allgemein mit der Frage des Chors im heutigen Theater befasst, wird diese Publikation als Nachschlagewerk betrachten, denn Christina Schmidt gelingt in ihrer hervorragendenUntersuchung die Vermittlung und Veranschaulichung einer anspruchsvollen Theaterreform, die radikal mit unseren Darstellungs- undWahrnehmungsgewohnheiten bricht. Nur eine umfangreiche Auseinandersetzung mit SchleefsWerk kann eine solche Klarheit des Blicks und des Ausdrucks verschaffen, die bereits im programmatischen Titel und in der 11-seitigen Einleitung mit deren wirkungsvoller Erörterung der Grundbegriffe und -fragen zum Vorschein kommt. Dass Schleef „den Chor als zentrale Theaterfigur begreift“, bedeutet zunächst die Abwendung von einer ich-zentrierten Auffassung desselben, womit sich sein Theater „von anderen theatralen Einsätzen chorischer Ästhetiken“ (S. 9–10) deutlich absetzt: Statt einer massenhaften Ansammlung oder „ex negativo als dekonstruierte[r] und vervielfältigte[r], ehemalige[ r] Einzelfigur“ (S. 11) wird der Chor als Theaterfigur und das Theater selbst als „realer Versammlungsort“ (S. 14) kenntlich gemacht.

Dabei fokussiert Christina Schmidt auf drei späte chorische Inszenierungen des 2001 verstorbenen Regisseurs, Ein Sportstück von Jelinek (Burgtheater, Wien, 1998), den Golem in Bayreuth von Ulla Berkewicz (Burgtheater, Wien, 1999) sowie Verratenes Volk nach Döblin, Nietzsche, Milton, Dwinger und anderen (Deutsches Theater, Berlin, 2000). Statt einer beliebigen [End Page 114] Beschreibung eines theatralen Phänomens wird zuerst anhand der zwei ersten Beispiele in einem mit „Tragödie als Bühnenform“ betitelten ersten Teil „das begriffliche Instrumentarium entwickelt und die methodische Herangehensweise zur Analyse von Schleefs szenischem Denken entfaltet“ (S. 19), womit in Teil II die „Porträtierung einer Inszenierung“ (S. 19) am Beispiel von Verratenes Volk erfolgen kann. Mit der Darstellung der „archäologischen Lektüre der verwendeten Texte“ anhand des neu erschlossenen Archivmaterials in Schleefs Nachlass an der Akademie der Künste (Berlin) und durch die „Genese der Inszenierung“ (S. 20) überhaupt wird Schleefs vom Chor ausgehendes szenisches Denken verdeutlicht.

In Schleefs Neuinterpretation der Theatergeschichte ist der mit Shakespeare erfolgte Durchbruch des Protagonisten auf Kosten des Chors und der Frau zugleich ein tiefer, schmerzlicher Verlust, dem durch eine Wiederbelebung der Tragödie dringend entgegenzuwirken sei. Unter diesem Begriff versteht Schleef den „konfliktuöse[ n] Zusammenhang szenischer Orte“ (S. 16), wie er in der ‚antiken Konstellation‘ zum Ausdruck kommt, als Elektra auf dem Proszenium „vor dem Palast“ steht, während sich der Chor in der Orchestra, das heißt dem Publikum am nächsten, behauptet. Die Frage ist nun, so Schmidt, „wie der Chor wieder Einzug in einem Theater halten [kann], dessen Bühne ihm nicht nur dramaturgisch, sondern auch baulich keinen Auftrittsort mehr bietet“ (S. 18). Denn das Verschwinden der Chor-Figur hängt auch, so hält Schleef in Droge Faust Parsifal (1997) fest, eng mit der Erfindung der Zentralperspektive zusammen und mit der Feststellung, dass nur eine „Einzelfigur im Fluchtpunkt erscheinen [könne], keine Gruppe“ (S. 15). Darüber hinaus sind seit dem Barock die Theatereinrichtungen als„rein optisch erschlossene Räume“ (UlrikeHaß) organisiert, in denen die Zuschauer als „passive Voyeurs“ (S. 32) eines „vor ihnen und in einem anderen zweiten, vom Zuschauersaal getrennten Raum stattfindenden Schauspiel“ (S. 27) sitzen.

Es gilt also die Mittel zu untersuchen, mit denen Schleef in seinen Inszenierungen dem Chor zu neuem Leben verhilft, aber auch die „Räumlichkeit der Chorfigur“ sowie „die Bearbeitung der theatralen Wahrnehmung durch das chorische Theater“ zu hinterfragen und das Augenmerk auf die „Auffassung von Sprache, Text und Figur“ (S. 11) zu richten. Dass Schleef den Konflikt nicht nur als Grundprinzip des Theaters, sondern allgemein als existenzielle Kernfrage auffasst, wird in Schmidts Analyse verdeutlicht, indem sie die seinen Inszenierungen innewohnende Gewalt als Provokation des Publikums zu verstehen gibt. Über die neue Konfiguration der Bühne durch Stege, Podeste, über die systematische Sprengung des Bühnenrahmens und allgemein des Guckkastentheaters hinaus ist Schleef durch die „energistische Form des Chorauftritts“ (S. 13) und das ständige Übergreifen in den Zuschauersaal um eine Aufhebung der alten Darstellungs- undWahrnehmungsmodi bemüht. Auf diese Weise werden die Zuschauer notwendigerweise aus der Passivität gerissen und zum aktiven Widerstand gezwungen.

Schleefs Theater konfrontiert das...

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