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  • Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie
  • Lorenz Aggermann (bio)

Über das Wir zum Ich: So paradox lässt sich die Ausgangssituation einer Zusammenarbeit umschreiben, die in kontinuierlichem Austausch der Frage nach dem Subjekt im Kontext der darstellenden Kunst nachging.1 Paradox, da doch das Ich nach eigener Erfahrung nicht nur unverhandelbar, sondern auch unteilbar, eben rein subjektiv zu sein scheint, und für ein Wir allenfalls die Voraussetzung sein kann – und nicht umgekehrt, auch wenn in mancher Philosophie das Gegenteil behauptet wird.2 Jedem sein eigenes Ich, ganz exklusiv und singulär. Dass dieses Ich gerade vor dem Hintergrund der darstellenden Kunst diskutiert wurde, welche bekanntermaßen diese Auffassung subvertiert, indem sie diesem Ich zugleich ein Nicht-Ich zu Seite stellt, und dieses Nicht-Ich-Ich überwiegend gegenüber einem pluralen Ihr in Anschlag bringt, war die zweite, apokryphe Setzung. Doch wie im Falle jeder doppelten Verneinung erwies sich gerade diese Konstellation als äußerst produktiv, und so begannen wir über das Ich zu denken und zu sprechen. Kein Wunder, dass in der Serie dieser Paradoxa die Philosophie als jener die darstellende Praxis kontrastierende wie fundierende Diskurs firmierte und nicht seine soziologischen oder gattungsspezifischen Differenzierungen.

Philosophie und Kunst, zwei freundschaftlich verwobene Disziplinen, auch wenn sie einander fallweise mit Skepsis und Vorurteilen begegnen: Beide zielen auf das Dysfunktionale, auf das Chaotische, auf das, was sich nicht erfassen lässt. Im Versuch, dieses zu umschreiben, konturieren sie einen gemeinsamen Corpus, der mehr als erörterungs- und diskussionswür-dig ist.3 Das Dysfunktionale zeigt sich indes nur vor dem Hintergrund einer Struktur, einer Ordnung, und diese ist es auch, welche den verschiedenen, mannigfaltigen Ichs ein Zuhause verspricht, in welchem transzendente Intimität und Vertrautheit herrschen. Ich ist ein Subjekt der Ordnung – oder zumindest eines, das die Ordnung sucht. Zugleich steht aber stets die untrügliche Gewissheit im Raum, dass es kein identisches, ungespaltenes Subjekt geben kann, dass die Ordnung, die ein geregeltes Leben ermöglichen soll, nur einen losen Rahmen gibt, der unter Belastung an allen Ecken und Enden knarrt und instabil wird, bricht. Dies evoziert zwangsläufig die Suche nach den Bruchstellen, an welchen das Dysfunktionale deutlich zum Vorschein kommt.

Struktur und Chaos stecken also jenes Koordinatensystem ab, in welchem die Politik des Subjektes stattfindet.4 Die Größe des Feldes, auf dem das Subjekt infolge zu verorten ist, wird bereits in der sprachlichen Mitteilung deutlich, welche die Voraussetzung bildet, die Immanenz zu überwinden und den Schritt über das Animalische hinaus in Richtung Subjekt zu tätigen. Subjekt, das Unterworfene, das der Sprache Unterworfene: „Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott und in allem war es Gott gleich.“5 Doch bereits das sprechende, stimmliche verfasste Ich meldet Zweifel an. Einerseits stellt sich die Frage, ob es nicht auch Akte der Anrufung gibt, die das Subjekt verfehlen und hierüber auf eine andere, (re) sonore Verfasstheit des Subjekts verweisen, in der Klang und Affekt maßgebliche Determinanten sind und welche der Lesbarkeit, dem sprachlichen Räsonnement entgeht. [End Page 69] Andererseits sind wir, selbst wenn wir die Vorgängigkeit der Sprache akzeptieren, gezwungen, in ihrer Ordnung eine Öffnung zu belassen, einen Spalt, durch welchen dieser Corpus elastisch bleibt und nicht in der Struktur erstarrt. Das Ich ist stets mehr als Sprache. Denn umgekehrt muss auch das Wort Fleisch werden, um dem Ich begegnen zu können, und Fleisch meint hierbei nicht primär die biologischen Aspekte des Menschseins, sondern all jene Akte, die über einen signifizierbaren Körper hinausweisen.6

Der sprachlichen Verfasstheit des Subjekts muss also notwendigerweise eine physiologische Praxis gegenüber gestellt werden, in welcher das Ich abseits der Sprache wildert und seinen Corpus weniger expliziert als ausagiert. Diese andere Ebene des Subjekts durchbricht die sprachliche Behausung verschiedentlich, führt sie an ihre Grenzen, lässt sie fallweise gar dysfunktional werden. Doch diese Praxis lässt sich nicht so ohne weiteres definieren, handelt es sich doch hierbei um verschiedene, ineinander übergehende spielerische Akte, die gänzlich ephemer, vor und neben der Sprache ablaufen, und nicht um einen geregelten oder wiederholbaren Prozess. Die Konturen des Subjekts werden deshalb am ehesten durch Fragen ersichtlich, welche stärker eine Entwicklung denn eine...

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