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  • Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur: Zur Funktion des Afrikanistischen in La Création du Monde (1923) und La Revue Nègre (1925)
  • Nicole Haitzinger (bio)

Rolf de Maré, Begründer der Les Ballets Suédois (1920 – 1925) und nach Sergej Diaghilew mit seinen bekannteren Ballets Russes der zweite große Impresario des Balletts der Moderne, initiiert im Jahr 1923 in Paris eine Inszenierung mit dem Titel La Création du Monde (Die Erschaffung der Welt). Vier europäische Künstler verantworten die Verfertigung und Aufführung, die auf afrikanischen Schöpfungsmythen basiert: Der Schriftsteller und Librettist Blaise Cendrars, der Komponist Darius Milhaud, der Bildende Künstler Fernand Léger und der Choreograf/Tänzer Jean Börlin. Zwei Jahre später, 1925, bringt de Maré die Revue Nègre ins Pariser Théâtre des Champs-Élysées, in der Josephine Baker für skandalöse Furore sorgt. La Création du Monde und die Revue Nègre entstehen im Kontext des großen Narrativs des europäischen Kolonialismus und profitieren von dessen Strukturen. Historiographisch perspektiviert, ist es die Zeit der sogenannten „Negrophilie“ in den Künsten, die mit der Faszination für erstens den transatlantischen Jazz und Charleston und zweitens für die Formensprachen der Kulturen des afrikanischen Kontinents verwoben ist. Zugleich präsentiert sich Frankreich (noch) als eine der wichtigsten Kolonialmächte, die nach der Berliner Konferenz (1884 – 1885) in Konkurrenz mit anderen europäischen Mächten eine kolonialistische Struktur über 20 Millionen Menschen der West-und äquatorial-afrikanischen Staaten etabliert hat. Diese ist von der neuen Disziplin der Anthropologie unterstützten Theorie der Inferiorität des sogenannten indigenen Subjekts (indigènes) durchdrungen.1

In La Création du Monde und der Revue Nègre wird in den Pariser 1920er Jahren mit einer jeweils spezifischen und radikal voneinander unterscheidbaren Techné des Körpers etwas präsent gemacht und präsentiert, das ich nach Brenda Dixon Gottschild als afrikanistisch bezeichnen möchte.

I use it here to signify African and African American resonances and presences, trends and phenomena. It indicates the African influence, past and present, and those forms and forces that arose as products of the African diaspora, including traditions and genres such as blues, jazz, rhythm and blues and hip hop. It denotes the considerable impact of African and African American culture on modern arts and letters [. . .]. In sum, the term denotes concepts and practices that exist in Africa and the African diaspora and have their sources and practices from Africa.2

Wichtig erscheint mir, dass Brenda Dixon Gottschilds Definition des Afrikanistischen nicht auf einem engen territorialen oder implizit kolonialen Verständnis eines ‚schwarzen‘ Kontinents oder einer ‚schwarzen‘ Rasse basiert, sondern die vielschichtigen und komplexen Resonanzen und Präsenzen eines konkreten wie imaginären Afrikas berücksichtigt. In Hinblick auf die historiographische und ästhetische Kontextualisierung von La Création du Monde und La Revue Nègre bietet sich die Perspektivierung über das Afrikanistische mit folgendem Argument an: In der Pariser Kunstwelt der 1920er Jahre werden in Produktion und Rezeption weitgehend weder die Vielschichtigkeit [End Page 37] der Kulturen auf dem afrikanischen Kontinent ausdifferenziert, noch die transatlantische afro-amerikanische Kultur als spezifisch wahrgenommen: Kurz gesagt: Alles was als ‚schwarz‘ konnotiert ist und/oder erscheint, wird mit dem Imaginarium Afrika gleichgesetzt. Das europäische Theater inkorporiert/kannibalisiert3 – wie wir wissen – in dieser Zeit mit Obsession das ‚Fremde‘.

In einer gegenwärtigen Betrachtung, in der die Implikationen postkolonialer Theorie in der tanztheatralen Forschung berücksichtigt und um Aspekte von bewegter und performativer Körperlichkeit erweitert werden, war und ist Performing Africa in Europa im mehrfachen Sinn eine „Liaison dangereuse“. Die hierarchische Ungleichheit der Kulturen – Stuart Hall hat es als „Der Westen und der Rest“ sloganisiert –4 grundiert die Moderne und bestimmt auch die Gegenwartskunst mit ihren teils unterschwelligen Paradigmen noch substanziell. Es gilt, im Sinne einer postkolonial analytischen Annotation von Tanzgeschichtsschreibung,5 kulturelle Differenzen zu historisieren, Dichotomien nicht zu essentialisieren und die künstlerische Moderne als ambivalentes Projekt und als „befähigende Verletzung“ zu verstehen.6 Hier entsteht ein methodischer Riss, den ich kurz benennen möchte: Will man die Ästhetik der tanztheatralen Künste der 1920er Jahre beschreiben und analysieren, läuft das von der Postkolonialen Theorie...

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