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  • Kunstsammlung und Kunstgeselligkeit:Zu Goethes Sammlungs- und Museumskonzeption zwischen 1798 und 1817
  • Helmut J. Schneider

I

Eine entscheidende Frage in der ästhetischen Theoriediskussion um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war die nach der gesellschaftli-chen Funktion einer als ‘autonom’ begriffenen Kunst. Welche Stelle in der modernen Gesellschaft konnte der aus ihren traditionellen—ständischen, religiösen, staatlichen—Bindungen herausgelösten Kunst zuerkannt werden? Dieser Frage widmeten sich die Autoren um 1800, also im Umkreis von Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Frühromantik mit einem bis heute kaum erledigten Reflexionsaufwand.

Dabei bot die für die soziale Theorie und Praxis des 18. Jahrhunderts bedeutsame Kategorie der Geselligkeit einen zentralen Anknüpfungspunkt. Geselligkeit zielte auf die freiwillige Vereinigung einer überschaubaren Gruppe von Menschen zum Zweck gelehrten und kulturellen, auch sozialpolitischen (“patriotischen”) Austauschs. Sie beruhte auf einer unterstellten Gleichheit der Mitglieder und ihrer zwanglosen Kommunikation. Mehr oder minder institutionalisiert (von Vereinigungen unter selbst gegebenen Satzungen bis hin zu locker organisierten familiär-intimen Runden), stellten die “Gesellschaften” im Zeichen aufklärerischer Geselligkeit so etwas wie ideale Keimzellen einer ‘demokratischen’ Gesellschaftsform dar; ihre Mitglieder erfuhren sich als Teil einer übergeordneten, potenziell universalen Gemeinschaft.

Die gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend hervortretenden Verbindungen mit künstlerischer und ästhetisch-kritischer Ausrichtung schlossen an diese aufklärerische Vorstellung an, die sie zugleich vergeistigten. Die Idee wurde wichtiger als der institutionelle Rahmen, der sich auf ein gemeinsames Publikationsorgan beschränken konnte. Bereits Lessing hatte der Geselligkeit am Beispiel des Freimaurertums—der bedeutendsten Geselligkeitsinstitution der Aufklärung—einen spirituell-idealistischen Gehalt zugesprochen, den er als das “gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister” charakterisierte.1 Friedrich Schlegel wird zwei Jahrzehnte später mit Bezug auf Lessings dialogisches Schriftstellertum von einer “öffentlichen Freimaurerei” [End Page 227] sprechen.2 Doch was für den Aufklärer noch stark pragmatisch-ethisch rückgebunden war, erhielt nun im Umkreis des klassischen Weimar und der Frühromantik einen emphatisch ästhetischen Akzent. Fragen der Kunst, ihrer Produktion und Rezeption, ihrer Aufnahme und Beurteilung, der konstitutiven Eigenschaften des Künstlers und des Kritikers, der Bildung des Liebhabers und Kenners, nicht zuletzt herausragende Einzelwerke wurden zum beliebten Gegenstand der dialogisch-geselligen Kommunikation. Diese fand einen Ausdruck in der für die Frühromantik bezeichnenden Gattung des Kunstgesprächs, das innerhalb eines mehr oder weniger ausgestalteten fiktionalen Rahmens den Austausch von Beschreibungen, Meinungen, Urteilen usw. zum Gegenstand der Darstellung machte.

Was bedeutet die gesellige Gesprächsform (und die ihr etwa zugrunde liegende Organisation) für die prinzipielle Auffassung der autonomen Kunst und ihre mögliche gesellschaftliche Einbindung? Dieser Frage möchte ich im Folgenden anhand einiger einschlägiger Goethetexte nachgehen, die sich dem Gegenstand der Kunstsammlung widmen und dabei auch die Anfänge des modernen Museums in den Blick nehmen. Kunstgespräch und Sammlung sollen dabei in einem inneren Zusammenhang begriffen werden. Als dargestellter Kommunikation ist dem literarischen Kunstgespräch die Szene einer Versammlung eingebildet. Gesprächspartner und ihre Gegenstände, soweit dies konkrete Werke sind, finden sich in einer fiktiven Räumlichkeit zusammen. Auch wenn es sich um keine unmittelbar anschauliche Sammlung handelt, holt das gesellige Gespräch die Werke in eine suggestive Präsenz, in der sich die Kommunikation der Kunstbetrachter mit derjenigen der Kunstwerke zu einer Art imaginärem Museum verbindet. So kann man vielleicht von einer ‘Geselligkeit der Werke’ sprechen, die deren Autonomie zugleich voraussetzt und relativiert. In einer Rede bei Eröffnung der Freitagsgesellschaft in Weimar am 9. September 1791 wendete sich Goethe gegen den “Selbstbetrug” von Künstlern, die wie Prometheus oder Pygmalion ihre Schöpfung allein ihrem inneren Genius zu verdanken glaubten: “[D]enn was wären Dichter und bildende Künstler, wenn sie nicht die Werke aller Jahrhunderte und aller Nationen vor sich hätten, unter welchen sie wie in der auserlesensten Gesellschaft ihr Leben hinbringen und sich bemühen, dieses Kreises würdig zu werden?”3 Die Werke “vor sich haben” heißt mit Bezug auf die bildende Kunst, sie zumindest mittelbar (in Abbildungen, Reproduktionen, vielleicht auch durch sprachliche Beschreibungen) anschaulich ‘vor Augen haben’; der Künstler, der sich in ihrer “auserlesensten Gesellschaft” bewegt, bewegt sich in einem gedachten, vorgestellten Museum. Und so wie sein Werk die Vielfalt der ihm vorausliegenden, es umgebenden Werke spiegelt, so wiederum...

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