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  • ‘Vaterland, Unsinn’. Thomas Bernhards (ent-)nationalisierte Genieästhethik zwischen Österreich-Gebundenheit und Österreich-Entbundenheit by Tim Reuter
  • Peter Höyng
Tim Reuter, ‘Vaterland, Unsinn’. Thomas Bernhards (ent-)nationalisierte Genieästhethik zwischen Österreich-Gebundenheit und Österreich-Entbundenheit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. 360 pp.

Im Anspruch und Umfang durchaus vergleichbar mit Anne Thills 2011 publiziertem opus magnum Die Kunst, die Komik und das Erzählen im Werk Thomas Bernhards setzt auch Tim Reuters überarbeitete Fassung seiner im Sommer 2012 vorgelegten Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München höchste Maßstäbe, was die Aufarbeitung der bisherigen Forschung zu Thomas Bernhards Gesamtwerk betrifft. Reuter inkludierte nicht nur alle Texte Bernhards und bereitete neues Archivmaterial aus Gmunden auf, sondern er sichtete und integrierte die kontinuierlich angewachsene Sekundärliteratur aufs Genaueste. Entsprechend vermitteln Thills und Reuters zusammen mit Bernhard Judex’ informationsgesättigter und gut lesbarer Einführung aus der Beckschen Serie Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte (2010) einen umfassenden Stand zur imposant angewachsenen Bernhard-Forschung.

Letztere lässt sich in drei Gruppen unterteilen. Zum größten Teil verfahren die einzelnen Interpretationen in der Hoffnung, “die Analyse diesen Texten ihr Geheimnis zu entreißen” (Schmidt-Dengler, 2002, nach Reuter 131), allerdings oft geprägt von dem gleichzeitigen Bewusstsein um die Vergeblichkeit eben dieser Bemühungen. Weil Bernhards Texte, die laut Manfred Mittermayer und Alfred Pfabigan als Varianten eines Gesamttextes aufgefasst werden sollten, sich durch einen hohen Grad autoreflexiver Selbststeuerung ausweisen, scheinen sie implizit die Interpretation von ihnen zu strukturieren, nur um sie ad Absurdum zu führen, so dass Sigried Löffler zum zehnten Todestag des Autors 1999 bereits treffend konstatieren konnte: “Wer diesem Dichter anhängt, scheint dazu verdammt, sich selbst in eine Bernhard-Figur zu verwandeln” (Reuter 129). Damit ist auch schon der zweite große Strang der Forschung angedeutet: Bernhard ist, wie Reuter treffend formuliert, “ein Weltautor für Germanisten” geworden (104), d.h. trotz seiner polyphonen und asynchronen internationalen Rezeption (98) übt er vor allem für uns beruflich bestellten Interpreten eine magnetische Anziehungskraft aus. Zum dritten: Ähnlich wie die einzelnen Texte auf- und untereinander bezogen bleiben und dadurch ein autopoetisches Netzwerk kreieren, bildet Bernhards Biographie und Werk einen dermaßen hohen Grad an konstitutiver Einheit, dass die Forschung bemüht diese Identität nach zu weisen, nur um zu glauben, sie gleichzeitig möglichst gut auseinander halten zu müssen. [End Page 151]

Alle drei Komponenten der Forschungsansätze gliedern auch Reuters eigene umfangreiche Arbeit. Bereits in seiner Einleitung bündelt Reuter alle drei Kategorien, wenn er sich ausführlich mit Bernhards allerletztem Text, seinem Testament, auseinandersetzt. Dort verwehrte Bernhard sich gegen jegliche politische Vereinnahmung des österreichischen Staates, indem er explizit Aufführungen seiner Theaterstücke, Drucke und Vorträge zu seinen Werken in Österreich verbot, und außerdem untersagte, aus seinem Nachlass zu veröffentlichen. Diese über den Tod hinaus versuchte Rezeptionssteuerung, die später legalistisch durch Bernhards Halbbruder ausgehebelt wurde, sieht Reuter (nach Löffler) “als wichtige[n] Teil seiner Selbstinszenierung als Schriftsteller” (38) und versteht den Text trotz “seines politischen Eskapismus” als einen eminent politischen (23). Nach diesem Auftakt zur letzten von Bernhard evozierten double-bind Situation als einer bestimmenden Grundstruktur im seinem Werk, erörtert Reuter sie als nächstes anhand der bereits im Titel benannten Variante von Bernhards Gebundenheit an sowie Entbundenheit von Österreich. Dabei berücksichtigt und diskutiert Reuter eingehend die Besonderheiten, die eine österreichische Literaturgeschichts-schreibung mit sich bringt. Das Kapitel mündet schließlich in die wenig über-raschende These, dass man “Bernhards nationale Identitätsverweigerung aufgrund der österreichischen Tradition des negativen Heimatgefühls durchaus als Moment nationaler Zugehörigkeit interpretieren” kann (106).

Es folgt der längste Teil der Arbeit, der werkimmanent die Genieästhetik der von Bernhard bevorzugten Figur eines Geistesmenschen im Spannungsfeld eben jener Österreich-Be- und Entzogenheit verortet. Die diesbezüglichen unterschiedlichen Aspekte werden zwar thematisch in größere Kapitel gebündelt, wie beispielsweise die im Werk durchgehend anzutreffende Theatermetaphorik oder aber die oft selbstironischen Übertreibungen; jedoch zerfällt der Teil in nicht weniger als über vierzig Unterkapitel und verliert dadurch wegen der Fülle an Details an Substanz.

Der letzte Teil der Arbeit überrascht, weil statt werkimmanenter Feindifferenzierungen Reuter reichlich unvermittelt einen...

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