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  • Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie Hrsg. von Oliver Kohns und Claudia Liebrand
  • Günter Dammann
Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie.
Herausgegeben von Oliver Kohns und Claudia Liebrand. Bielefeld: transcript, 2012. 380 Seiten + zahlreiche s/w Abbildungen. €36,80.

“Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie” verspricht das hier zu rezensierende Buch im Untertitel. Wenn ein mit solcher Materie halbwegs vertrauter und geneigter Leser sich indessen in den Band zu vertiefen beginnt, dürfte er alsbald stutzen. Unübersehbar ist die mangelnde Vertrautheit der meisten Beiträger mit dem, was sich in den letzten vier Jahrzehnten auf dem Feld der Gattungstheorie getan hat: Symptomatisch schon die Meinung, seit den 1970er Jahren sei ein “abnehmendes Interesse” an diesem Feld der Theorie zu konstatieren (M. Roussel 22)—ein Fehlurteil von erstaunlicher Blindheit. Frickes Norm und Abweichung (1981) wird immerhin zweimal erwähnt (Th. Wortmann 210, C. Liebrand 295), Fowlers Kinds of Literature (1982), eine pièce de rèsistance der internationalen Diskussion, erscheint kurz zweimal in ein und demselben Aufsatz (H. Berressem 333f.), desgleichen Neale mit Genre and Hollywood von 2002 (Liebrand 302, 309), Hempfer verschafft sich mit seiner Gattungstheorie (1973) zwar Eintritt in drei Beiträge (M. Roussel 21, R. Simon 106, H. Berressem 333, 338), muss allerdings froh sein, wenn er nur linker Hand erwähnt und nicht obendrein noch verspottet wird. Gänzlich unbekannt geblieben sind offenbar—ich beschränke mich weiterhin auf Monographien und wähle aus—Dubrows Genre (1982), Kents Interpretation and Genre (1986), Schaeffers unumgängliches Qu’est-ce qu’un genre littèraire? (1989), Fishelovs Metaphors of Genre (1993), Zymners Gattungstheorie (2003) oder auch (keine Monographie, sondern ein Sammelband) Gattungstheorie und Gattungsgeschichte von Gymnich, Neumann, Nünning (2007). Überhaupt bleibt die reichhaltige und oft bedeutsame Aufsatzliteratur der letzten 30 oder 40 Jahre praktisch ohne jede Berücksichtigung. Stattdessen wird gelegentlich aus kurzen Lexikon-und Propädeutik-Artikeln zitiert, mit hochmütigem Gestus; Zymners mit Hilfe zahlreicher Beiträger erstelltes, dem Gesamtfeld gewidmetes Handbuch Gattungstheorie (2010) [Anm. d. Hg.: siehe Rezension in Monatshefte 105.2, Sommer 2013, 315–318] indessen sucht man wieder vergebens. [End Page 136]

Das hat System und ist Absicht. Weil nämlich, so die einleitende (und konsequent durch das eigene Beispiel validierte) Behauptung des Herausgeber-Teams, angeblich “die Gattungstheorie kaum noch als ein relevantes und lebendiges Forschungsgebiet wahrgenommen” werde, wolle man dem Interesse mit “geschichtsphilosophisch inspirierten Entwürfen” von Lukács, Benjamin und Szondi wieder auf die Beine helfen (7). Das ist soviel gesagt wie: Die ‘neue’ Gattungstheorie, die uns hier in ‘Ansätzen’ schmackhaft gemacht werden soll, ist nichts anderes als Urgroßvaters Gattungstheorie. In dieser Form gilt das Verdikt indessen nur für die ersten drei Viertel (und damit den Hauptteil) des Bandes. Zu ihm, der im wesentlichen der Literatur gewidmet ist, zunächst, zum an- und abschließenden Viertel über den Film später.

Zwei Aufsätze scheinen mir besonders geeignet, das Vorhaben von Gattung und Geschichte in seiner Problematik zu verdeutlichen. M. Roussels “Das Material der Gattung” widmet einen Großteil seiner Argumentation dem in der Einleitung skizzierten Programm. Der Verfasser geht, und das ist nun auch kaum mehr anders zu erwarten, absichtlich von einem “essentialistische[n] Gattungsverständnis” (23) aus, damit er anschließend diesen Popanz mit Derridas einschlägiger Abhandlung von 1980 (hier wie sonst im Band immer nach der deutschen Übersetzung von 1994 genutzt) süffisant zersetzen kann. “Wie ‘Gattung’,” so heißt es bald, “im Unterschied zu ‘Genre’ keine historische Kategorie meint, betrifft die Geschichte einer Gattung ihre Übertretung in sich selbst” (25). Einen Satz wie diesen kann man nur schreiben, wenn man die Überlegungen über ‘Gattung’ bzw. ‘Genre,’ wie sie die diversen Literaturwissenschaften in den letzten 40 Jahren in großer Breite angestellt haben, vorsätzlich nicht zur Kenntnis genommen hat. Gerade für Roussels Beitrag muss nun aber zusätzlich erwähnt werden, dass seine auf Derrida’sches Niveau zielenden Formulierungen durch eigene sprachliche Unzulänglichkeiten zu komischem Absturz werden; ich zitiere (peinlich genug ist es, den Aspekt ansprechen zu müssen) als eines von mehreren Beispielen: “In der Betrachtung der Schönheit seiner selbst überschreitet die Gattung...

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