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  • Franz Kafkas Handschrift zum Schloss by Von Matthias Schuster
  • Andreas Härter
Franz Kafkas Handschrift zum Schloss. Von Matthias Schuster. Heidelberg: Winter, 2012. 552 Seiten. €74,00.

Matthias Schuster legt eine Interpretation von Kafkas Schloss-Roman vor, die auf dem handschriftlichen Textkonvolut und damit auf einer Nähe zum Textoriginal basiert, welche der von Max Brod besorgten Erstausgabe, aber auch der Kritischen Kafka-Ausgabe (KKA) von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit fehlt. Vom Schloss-Roman ist noch keine Faksimile-Ausgabe erschienen (selbstverständlich ist sie im Editionsplan der Franz-Kafka-Ausgabe [FKA] [End Page 520] von Roland Reuß und Peter Staengle vorgesehen); Matthias Schuster hat deshalb für seine Dissertation vor Ort in der Bodleian Library in Oxford gearbeitet, dies mit einigem Gewinn.

Schusters Monographie zur “Handschrift zum Schloss” legt zunächst in Teil 1 das theoretische und methodische Fundament zu seiner Manuskriptlektüre, um dann in Teil 2 den Schloss-Roman in einer Reihe von Zugängen zu erschließen, die von einer Hauptthese zusammengehalten werden: Der Schloss-Roman sei erzählerisch mehrperspektivisch angelegt, was sich—mitsamt dem dieser Anlage inhärenten Prinzip der Unzuverlässigkeit—auf allen Ebenen des Texts auswirke und die Möglichkeiten seiner Deutung präge. Nachdem die Hauptthese bereits in Teil 1 formuliert wurde, erweist sich Teil 2 als groß angelegte Bestätigungslektüre. Diese bietet in ihrem ausführlichen Gang eine Fülle präziser Einzelbeobachtungen. Eine gewisse Neigung zu Wiederholungen sowie eine Tendenz zur Paraphrase (besonders deutlich in den späteren Kapiteln) sind für den Umfang der Arbeit mitverantwortlich.

Eröffnet wird die Studie nicht mit einer Erörterung zu den Bedingungen der Lektüre von Handschriften, sondern mit einem Kapitel zur Geschichte der Hermeneutik (Kapitel 1.1). Indem dieses Kapitel in Schleiermachers Hermeneutik die Verbindung der “Kunst der Auslegung mit der Textkritik” (16) hervorhebt, schafft sich Schusters Studie ein theoretisches Fundament für die eigene Interpretationsarbeit an der Handschrift. Aber das Kapitel hat eine zweite methodologische Implikation: Mit Schleiermachers Hermeneutik stellt es den Autor als Urheber des Texts und als Verstehensziel der Auslegung ins Zentrum der Lektüre, und dieses Primat übernimmt Schuster für seine Arbeit (schon Friedrich Schlegel hatte sich von ihm distanziert; erst recht der Dekonstruktivismus, der bei Schuster summarisch abgewiesen wird). Angesichts der originalen Handschrift wird die Frage nach dem Verhältnis von Text und Autor ebenso unabweisbar wie komplex. Dieses Verhältnis jedoch vorweg so festzulegen, dass die Handschriftenlektüre die Autorintention bzw. die “Gedankengänge Kafkas” (15) als erstes Ziel der Texterschließung fasst (z. B. 144: “Um die Offenheit zu erhalten und die Unsicherheit des Lesers bezüglich der dargestellten Welt zu bewahren, strich Kafka diese Passage”), heißt, das Problem abzuweisen, bevor es sich eigentlich gestellt hat. Wenn Kafkas literarisches Schreiben zu Entwicklungen auf Handlungs- und Figurenebene tendiert, die wieder gestrichen werden, damit der Anfangsstand des gesamten Schreibprojekts erhalten bleibt—Schuster zeigt überzeugend, dass der Schloss-Roman seiner Handlung und seinen Charakteren keine Entwicklung zugesteht—, was motiviert dann die Neigung des Schreibens (nicht des Autors) zu Entwicklungen, und was motiviert die Streichungen? Wie sind solche Vorgänge mit “Autorintention” verknüpft, und lassen sie sich anders als auf diese Verknüpfung hin lesen? Wie verhalten sich (Hand-)Schrift und Text zueinander? Diese Diskussion wird in Schusters Arbeit nicht weit geführt.

Im Anschluss an das Hermeneutik-Kapitel erörtert Schuster das Verhältnis von Handschrift und Buchausgaben. Seine Kritik an Brods Ausgabe sowie an der KKA lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auf der Strecke bleibt hingegen die Ironie, die mit dem Autornamen Kafka verbunden ist: dass eine editionsphilologisch überzeugende Ausgabe seiner Texte nur dank einer Autorprominenz machbar gewesen wäre, die durch eine editionsphilologisch fragwürdige Ausgabe erst zustande kommen musste—und die anders nicht hätte zustande kommen können, da Brod niemals die Mittel und Möglichkeiten gefunden hätte, eine kritische Ausgabe der Texte [End Page 521] Kafkas bereitzustellen—, dass Brod also Kafka für die Literatur des 20. Jahrhunderts um den Preis gerettet hat, dass dieser ‘falsch’ gelesen werden musste.

Seit Jahrzehnten diskutiert und verwirft die Kafka-Forschung Friedrich Beißners These von der Einsinnigkeit des Kafka...

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