In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Jean Améry und Fred Wander. Erinnerungen und Poetologie in der deutschdeutschen Nachkriegszeit by Von Ulrike Schneider
  • Yun-Young Choi
Jean Améry und Fred Wander. Erinnerungen und Poetologie in der deutschdeutschen Nachkriegszeit. Von Ulrike Schneider. Berlin und Boston: de Gruyter, 2012. vi + 385 Seiten. €99,95.

In ihrem Buch stellt Ulrike Schneider zwei jüdische Erinnerungen an den Holocaust im Ost- und West-Vergleich vor. Es handelt sich um bedeutende Texte der Holocaustliteratur aus beiden Teilen Deutschlands, und zwar Jenseits von Schuld und Sühne (1966) sowie weitere essayistische Schriften von Jean Améry und die Erzählung Der siebente Brunnen (1971) von Fred Wander. Die Erinnerungen beider Autoren basieren auf Erlebnissen und Erfahrungen in verschiedenen nazionalsozialistischen Konzentrationslagern. Die Leitidee des Buches von Schneider liegt in der Verknüpfung der beiden Reflexionsachsen der Ost-West-Gegenüberstellung und des jüdischen Erinnerns. In der Literaturwissenschaft ist bisher zwar die Literatur von Ost- und Westdeutschland aus verschiedenen Perspektiven zum Gegenstand des Vergleichs geworden, jedoch zeichnet sich Schneiders Ansatz dadurch aus, dass Schriften von KZ-Überlebenden und damit verbunden eine ‘andere,’ von der allgemeinen deutschen Erinnerung unterschiedene jüdische Vergangenheitsaufarbeitung thematisiert werden. Die faschistische, die Menschen enthumanisierende Brutalitaät als gemeinsame, extreme Grunderfahrung wird dementsprechend weniger textimmanent oder hermeneutisch als vielmehr von den soziokulturellen Kontexten her betrachtet, die wiederum von den Schreiborten Ost- und Westdeutschland beeinflusst sind, die die Autoren selber gewaählt haben. Schneider bezeichnet diese Orte als “publizistische Heimaten,” da beide Teile Deutschlands die Autoren nicht nur förderten, sondern erst die Wechselbeziehungen zu ihnen die Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption der Texte überhaupt ermöglicht haben. Diese komparativ angelegten Rahmen an sich geben der leicht modifizierten Dissertationsschrift einen besonderen Stellenwert, wobei die deutsch-deutsche literarische Öffentlichkeit, die aktive oder passive Beteiligung der Autoren daran und ihre daraus resultierenden poetologischen Konzepte schwerpunktmaäßig verglichen werden.

Nicht nur Analogien und Differenzen der soziokulturellen, publizistischen und ideologischen Rahmenbedingungen in Ost- und Westdeutschland, sondern auch der systeminterne Wandlungsprozess, besonders in der westlichen Öffentlichkeit der 50er und 60er Jahre, werden im Hinblick auf Vergangenheitsbewaältigung als Bezugspunkte und Aktionsfelder herangezogen. Es bleibt ein hoch interessanter Aspekt, welchen Stellenwert die Literatur der Opfer, der jüdischen Überlebenden aus den KZs, in den damaligen offiziellen und öffentlichen gesellschaftlichen Diskursen von Ost- und Westdeutschland über die Vergangenheitsaufarbeitung besaß und inwiefern sie zur Bildung eines kritischen Selbstverstaändnisses beitragen konnte. Schneider betont dabei den kommunikativen Gesichtspunkt und untersucht, wie die Texte in ihrer Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption auf die jeweils ost- und westdeutsche Nachkriegsgesellschaft Bezug nahmen und sie veraänderten.

Die unterschiedlichen Gattungsentscheidungen und Poetologien der Autoren werden im Rahmen der detaillierten, praäzisen Kontextanalysen der jeweiligen Literaturbetriebe diskutiert. Améry, der in seiner literarischen Arbeit vom Zeugen- oder Opferstatus zum engagierten Aufklaärer und Intellektuellen überging, wird vor allem durch eingehende Untersuchungen über die Wechselwirkungen mit damaligen westdeutschen [End Page 532] Intellektuellen beleuchtet. Für Améry war die Entscheidung für die essayistische Form unausweichlich, da er sich einerseits in philosophischen und politischen Kontroversen mit Intellektuellen wie dem konservativen Kritiker H.E. Holthusen oder in der Zusammenarbeit mit dem linkskritischen H. Krüger befand und andererseits über westdeutsche Massenmedien wie Rundfunk, Zeitung, Verlage etc. auf ein großes Publikum zur Bildung einer kritischen Öffentlichkeit zielte.

Demgegenüber stellt sich Wanders chassidisch gepraägte, poetisch bemerkenswerte Erzaählung Der siebente Brunnen als seine widerstaändige, distanzierende Antwort auf die damals in Ostdeutschland vorherrschende ‘antifaschistische’ Ausrichtung dar, denn die DDR proklamierte durchgaängig den Antifaschismus als Staatsideologie und hatte bei der Verschiebung der Schuld auf den Westen kaum eine Chance, aus einer selbstkritischen Perspektive über den Faschismus zu reflektieren. Wanders Text wird ebenfalls weniger textintern oder literaturgeschichtlich als in der Kommunikation mit den ostdeutschen publizistischen Verhaältnissen praäzis interpretiert. Der ostdeutsche Literaturbetrieb und dessen Elemente Förderung und Druck werden dabei vor allem im Bezug auf das Literaturinstitut Leipzig, auf Verlage, das Komitee der Antifaschistischen Kaämpfer etc. analysiert. Wanders Text erweist sich als eine gewichtige Stimme für die Vergangenheitsaufarbeitung, indem er die von den ostdeutschen offiziellen Erinnerungseinrichtungen abweichenden, jüdischen Erinnerungen durch die einzelnen Geschichten von ermordeten Opfern vermittelt. Die traditionsreichen ostjüdischen Erzaählcharakteristika von Wanders literarisch-fiktionalisierten Erzaählungen...

pdf