In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Lektüren der Erinnerung. Lessing, Kant, Hegel by Von Peter Gilgen
  • Rolf J. Goebel
Lektüren der Erinnerung. Lessing, Kant, Hegel. Von Peter Gilgen. München: Fink, 2012. 233 Seiten. €29,90.

Konzepte der Erinnerung und des Gedächtnisses rangieren in den gegenwärtigen Literatur- und Kulturwissenschaften an prominenter Stelle. Oft als Gegenbewegung, als subversive Alternative zur spätkapitalistisch-globalen Beschleunigungsgesellschaft und ihrer (vermeintlichen) Tendenz zur Gegenwartsfetischisierung, fraglosen Konsumideologie und Geschichtsvergessenheit konzipiert, reflektieren Erinnerungsdiskurse auf das nie erfüllbare, aber trotzdem legitime Begehren nach einer partiellen Bewahrung oder Wieder-Holung des Vergangenen, manchmal sogar als Erlösungshoffnung den realen Katastrophen abgerungen und oft dem Gedenken der sprachlos gemachten Opfer gewidmet. Erinnerungs- und Gedächtnisdiskursen geht es deshalb nicht nur um die Auseinandersetzung mit der Faktizität historischer Vergangenheit, sondern auch um die Gewinnung eines kritischen Gegenwartsstandorts, um die Konstitution des deutenden Subjekts in seiner Zeitlichkeit und um die Formation einer authentischen, aber letztlich stets unzulänglichen Sprache, der sich die geisterhaften Spuren des Vergangenen immer wieder verflüchtigen.

Angesichts der Vielfalt der methodischen Ansätze und Erkenntnisinteressen, die die wissenschaftliche Erfassung von Erinnerung und Gedächtnis hervorgebracht hat, ist es das Verdienst von Peter Gilgens Studie, eine ebenso detaillierte wie dicht argumentierte Rekonstruktion eines entscheidenden Paradigmawechsels in der Geschichtsphilosophie um 1800 zu bieten. Gemeint ist der Übergang von der auf die Antike zurückgehende ars memoriae, die noch im Spätmittelalter und in der Renaissance gepflegt wurde, aber zunehmend als rhetorisch orientierte Praxis der antiquarischen Mnemotechnik kritisiert wurde, zu einer Wiederentdeckung und Weiterentwicklung des platonisch-augustinischen Erinnerungsdiskurses. Dieser entwickelte eine neue, historistisch-hermeneutische Methodik, zielte verstärkt auf die Reflexion der Zeitlichkeit und des Gegenwartsstandpunkts des erkennenden Subjekts und schlug sich in aktuellen Gattungen der Autobiographie, des Bildungsromans und vor allem der Geschichtsphilosophie nieder (9–11).

Diese Veränderungen liest Gilgen an den Auseinandersetzungen Lessings, Kants und Hegels mit ihren jeweiligen Vorläufern oder Gegenspielern—Augustinus, Kant selbst und Hölderlin—ab. Die komplexen Überschneidungen, Zitationspraktiken, Verweisungstechniken und kritischen Alternativen zeichnet Gilgen mit beeindruckender Prägnanz, Klarheit und angemessener Berücksichtigung der umfassenden Sekundärliteratur nach. So zeigt er—um nur ein Beispiel zu nennen—dass das “absolute Wissen,” mit dem Hegels Phänomenologie endet “und in dem der philosophische Standpunkt erreicht ist, [ … ] nichts anderes als eine Position vollständiger und sich selbst transparenter Erinnerung” bedeutet. Sein enger Studienfreund Hölderlin [End Page 499] dagegen enwickelt “ein ausgeprägtes Bewusstsein für die irreduzible Temporalität von Beobachtungen zweiter Ordnung,” wobei “in der Zeitspanne, während derer eine Beobachtung gemacht wird, das beobachtende Subjekt als endliches Körperwesen selbst zeitlichen Veränderungen ausgesetzt ist, die es jedoch nicht gleichzeitig durchmachen und beobachten kann” (172). Wie eng Gilgen stets am materiellen Wortlaut der Texte arbeitet, zeigt etwa seine ausführliche Analyse von Hegels berühmter Wortbildung der “Er-Innerung,” deren “stumm[es]” Zeichen des Bindestrichs diese “ihrer selbst bewusste Form der Erinnerung” auch schreibtechnisch “zur grundlegenden Tathandlung eines leeren, proleptischen Subjekts auf dem Weg zu seiner Erfüllung” erhebt und die Er-Innerung kenntlich macht “als ein Kompositum, eine Zusammenfügung diskontinuierlicher Elemente,” wobei der Bindestrich auch die Suspendierung des “nahtlos[en] Übergang[s] zwischen Innen und Außen, den die Erinnerung ermöglichen soll” markiert (212).

Gilgens Fokus auf die sprachbildliche Materialität der analysierten Texte wirft ein kritisches Licht gerade auf jene hermeneutischen Bemühungen, für die die Signifikanten scheinbar überflüssig werden, sobald die “Mitteilung in den menschlichen Geist oder [ … ] ins Herz gedrungen ist,” wie es bei Augustinus’ Ambrosius-Lektüre passiert (24). Ähnlich verurteilt auch Lessing die lutherische Praxis “literalistischer Schriftverehrung” und “Bibliolatrie” (44). Hegels philosophische Hermeneutik schließlich will “die Vorstellung von ihrer materiell-bildlichen Seite” befreien, um “ein reines Medium des Denkens im Fortschritt der Philosophie des Geistes zu produzieren” (226). Mit dieser hier nur kurz referierten Entwicklung, so könnte man aus Gilgens Studie folgern, hat sich die (geschichts-)philosophische Hermeneutik auf einen fatalen Weg begeben, der stets über die Materialität der Schrift bzw. des sprachlichen Signifikanten und die Bildlichkeit der imaginären Vorstellungskraft hinweg möglichst widerstandsfrei zu einem ‘reinen’ Sinn zu finden sucht. Gerade Hölderlins Dichtung der “harten Fügung” (Norbert von Hellingrath) thematisiert durch die parataktische...

pdf