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  • Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900 by Von Florentine Biere
  • Rainer Godel
Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900. Von Florentine Biere. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012. 427 Seiten. €49,80.

Die Stärke dieses Buchs—eine Zürcher Dissertation von 2010—liegt in der Qualität der Textanalysen und -interpretationen. Der Verfasserin gelingen textnahe, präzise, oft überraschende und häufig den Forschungsstand in kritischer Absicht überschreitende Lektüren. Sie untersucht nach einer Einleitung, in der sie die Grundthese und den methodischen Zugriff skizziert, und einem ersten Kapitel zur spätaufklärerischen Poetik ein Novellencorpus von fünf Autoren. Etwa 150 Seiten widmet sie ihrer Hauptquelle. Sie liefert eine detailreiche Interpretation von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.

Es folgen deutlich kürzere Interpretationen. Heinrich von Kleists “Bettelweib von Locarno,” “Findling” und “Verlobung in St. Domingo” bilden das Zentrum des [End Page 505] dritten Kapitels. Im Anschluss bietet Biere eine eingängige Analyse von Gottfried Kellers “Sinngedicht.” Ein knappes Kapitel zu Hugo von Hofmannsthal und eine auch Kontexte berücksichtigende Interpretation von Robert Musils “Vereinigungen” beschließen den Band. Der kurze “Schluss” bietet nur eine Zusammenfassung der Hofmannsthal- und Musil-Kapitel. Die untersuchten Novellen umfassen einen Zeitrahmen von den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts bis in die 10er Jahre des 20. Jahrhunderts, wobei die Auswahl der Texte sich “an den beiden Kristallisationspunkten der Moderne um 1800 und um 1900” (13) orientiere. Zu beiden Zeiten werde, so die Verfasserin, in hohem Maße über Fragen der Literatur, des Literatursystems und der literarischen Gattungen “nachgedacht,” und jeweils “scheint die Novelle als Experimentierraum zur Gestaltung dieser Probleme auf besondere Weise produktiv” (13) zu sein.

Eine systematisierende Zusammenschau, die diese Grundthese in Hinblick auf die Leistungen der Novelle um 1800 und um 1900 noch einmal aufgenommen und erläutert hätte, welche denn die “besondere Weise” sei, durch welche die Novelle als Gattung produktiv werde, fehlt. Dabei hat die Verfasserin in ihren instruktiven Textanalysen eine ganze Reihe von Elementen aufgedeckt, die die Narrativik dieser Novellen, die sie als ein “anderes Erzählen” skizziert, charakterisieren: Bei Goethe und Kleist zeigt sie, wie die zeitgenössische Kontingenzerfahrung sich in den Erzählungen narrativ spiegelt und ästhetische Polyvalenz nicht nur als unvermeidlich zulässt, sondern aktiv generiert, ohne dies über Introspektion zu organisieren. Entscheidend für diese Möglichkeit sind zum Einen unaufgelöste oder widersprüchliche inhaltliche Elemente, zum Anderen die Konturierung eines semiotisch unzuverlässigen Erzählens. Kellers “wilde[s] Erzählen” (291) konstruiert und dekonstruiert den narrativen Rahmen der traditionellen Novellistik. Die Artifizialität Hofmannsthals verlagert das “Ereignis” aus der am Ende des 19. Jahrhunderts kanonisierungsbereiten Novellentheorie in das “innerste Erlebnis” (334). Musil schließlich radikalisiert das novellistische Erzählen, indem er durch Bildlichkeit und Gleichnishaftigkeit des Erzählens ein Moment der Stillstellung generiert, das dem Handlungsprimat der Gattung Novelle widerspricht.

Diese Einzelanalysen bieten gründliche Lektüren und überzeugende Einsichten. Biere zeigt, inwiefern Goethes, Kleists, Kellers, Hofmannsthals, Musils Erzählen innovativ ist. Sie führt indes weder vor, dass die von ihr ausgewählten Texte paradigmatisch für die Novelle um 1800 bzw. um 1900 (oder für die Moderne) sind, noch verdeutlicht sie, worin genau dieses “andere Erzählen”—das offensichtlich um 1800 ein anderes Anderes ist als um 1900—jeweils in Hinblick auf die Gattung besteht. Das Fehlen einer systematisierenden Perspektive wird deutlich im inflationären Gebrauch des “Experiment”-Paradigmas durch die Autorin. Um das Schreiben “jenseits” der Gattung (10), das “andere Erzählen,” begrifflich zu fassen, spricht sie sowohl in Hinblick auf generische wie auf narrative Charakteristika vom “Experiment” und anderen Experimental-Komposita (9, 12–16, 25f., 32f., 65–69, 101, 116, 118, 121f., 130f., 160, 179, 193–198, 212, 219, 230, 236, 255f., 276–280, 282, 285f., 289, 306, schließlich 408 u.v.m.). “Experiment” steht poetologisch für Anderssein schlechthin, wobei zusätzlich eine positive Wertung des Experimentierens in der Metapher angedeutet wird. Doch wieso ist ein Experiment a priori etwas Gutes? Wer experimentiert hier eigentlich womit und wozu? Und inwiefern kann die Erzeugung einer Differenz überhaupt als “Experiment” gekennzeichnet werden? Die Verfasserin zieht aus [End Page 506] ihrer Analyse diskrepant unterschiedlicher “Experiment”-Begriffe Paul Heyses und Kellers...

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