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  • Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne Von Gabriela Wacker
  • Silke Horstkotte
Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Von Gabriela Wacker. Berlin und Boston: de Gruyter, 2013. 526 Seiten. €99,95.

In den Literatur-und Kulturwissenschaften gibt es Zusammenhänge, die man schon länger geahnt hat, die aber noch nie systematisch dargestellt wurden. In diese Lücke können verdienstvolle Qualifikationsarbeiten stoßen und mit etwas Glück über Nacht zu Standardwerken avancieren. Ich erinnere beispielsweise an Andrea Polascheggs Der andere Orientalismus (2005): Dass der deutsche Orientalismus, anders als der britische und französische, nicht aus kolonialen Verstrickungen erwächst, sondern sich einer religionswissenschaftlichen und poetologischen Erweiterung der philologia sacra verdankt, leuchtet sofort ein, man hat es quasi schon auf der Zunge gehabt—aber geschrieben hat das Buch darüber eben erst Polaschegg.

Gabriela Wackers jüngst erschienene Tübinger Dissertation Poetik des Prophetischen tritt mit dem Anspruch an, die gleiche Leistung für die Karriere des poeta vates in der Moderne zu erbringen. Denn ist der poeta vates einerseits eine ehrenwerte Autorschaftskonstruktion, deren Ort weit vor der Moderne zu liegen scheint, so leuchtet andererseits sofort ein, dass dieses Konstrukt im frühen 20. Jahrhundert für Dichter wie George und Rilke hochgradig anschlussfähig wurde. Nur: Vor Wacker ist diese Reaktualisierung nicht systematisch untersucht worden. Der Artikel POETA des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik beispielsweise verweist zwar auf eine Renaissance des poeta doctus im 20. Jahrhundert, erwähnt den poeta vates für diesen Zeitraumjedoch mit keinem Wort. Zwar liegen zahlreiche Arbeiten zu Prophetie im Werk einzelner Autoren vor—insbesondere sind hier die Studien von Wolfgang Braungart, Martina Wagner-Egelhaaf und Friedhelm Marx nennenswert—doch stand ein breit angelegter systematischer Überblick bisher aus; zumal einer, der die beiden sich aus unterschiedlichen Traditionen herleitenden, in der ästhetischen Diskussion der klassischen Moderne jedoch eng verwandten poetischen Figuren des Propheten und des vates auch in der Untersuchung zusammenführt. Wackers Arbeit verspricht deshalb wertvolle Erkenntnisse für alle Literaturwissenschaftler, die sich mit Poetiken der klassischen Moderne befassen.

Denn wie Wacker überzeugend darlegt, stellt die Figur des Künstler-Propheten ein hochgradig anschlussfähiges Modell für die Selbststilisierung von Autoren, deren poetologische Reflexion und das intertextuelle Abarbeiten an Vorbildern in einer als krisenhaft begriffenen Moderne dar. Wacker nennt drei Zentralkomponenten krisen-hafter moderner Erfahrung: (1) Entgötterung der Welt und Metaphysikkritik; (2) die positivistische Infragestellung letzter Einheiten, etwa des Atoms; und (3) soziale Prozesse wie etwa Urbanisierung usf. Im Kontext einer solchen Krisensituation bot die Inszenierung des Künstlers als Prophet die Chance zum kreativen Umgang mit neuen Orientierungsmustern, wie sie sich etwa an Hugo Balls Auratisierung der Gestalt [End Page 335] Kandinskys nachvollziehen lassen. Wacker zeichnet im Eingangsteil ihrer Arbeit (Kap. I–III) die zwei Traditionslinien des antik-paganen vates und des alttestamentlichen Propheten nach, konzentriert sich im folgenden allerdings stark auf die Prophetenfigur, wobei auch in der untersuchten Epoche die Tendenz besteht, undifferenziert von Propheten zu sprechen (auch bezogen etwa auf Zarathustra, Hesiod und Echnaton, 49). Worin die Gründe für diese Konzentration auf biblische Anknüpfungspunkte liegen, die Wacker vornehmlich anhand der Prophetismus-Diskussion in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude nachvollzieht, wäre noch genauer und vor allem mit Bezug auf die religiöse Situation um die Jahrhundertwende zu klären. Wacker geht solchen kultur-und mentalitätsgeschichtlichen Fragen kaum nach und neigt überhaupt dazu, bei einer relativ oberflächlichen Beschreibung ihres allerdings äußerst umfangreichen Materials stehen zu bleiben. Auch über die Gründe für die Auswahl ihres Untersuchungskorpus hätte man gerne mehr erfahren: warum z. B. gerade Der Jude, obwohl spezifisch jüdische Gesichtspunkte im Hauptteil der Arbeit nur eine untergeordnete Rolle spielen?

Vier Dichter (in einem starken Sinne) sind es, an denen Wacker in diesem Hauptteil (Kap. IV–VII) die produktive Revitalisierung der Prophetenfigur erörtert: George, Rilke, Trakl und Werfel. Dabei zeigt sie in detaillierten Analysen, wie alle vier die Inspirationstopoi des sprachbegeisterten vates jeweils ganz unterschiedlich mit eher aktivistischen Vorstellungen vom wortmächtigen Dichterpropheten kombinieren und in ihren Texten weiterentwickeln. Während George und Rilke allgemein als vates-Dichter bekannt sind, eröffnet die...

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