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  • Schematisierte Ansichten. Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg Von Eckhard Lobsien
  • Dirk Oschmann
Schematisierte Ansichten. Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg. Von Eckhard Lobsien. München: Fink, 2012. 276 Seiten. €34,90.

Die Frage, was Literatur ist, hat seit der Entgrenzung des Textbegriffs durch den cultural turn an Dringlichkeit gewonnen. Wie vielfältig die Antworten darauf ausfallen können, belegt die Fülle an Publikationen der letzten fünfzehn Jahre. Dieser Kernfrage der Literaturwissenschaft widmet sich auch das jüngste, mit großer Verve [End Page 295] geschriebene Buch des Frankfurter Anglisten Eckhard Lobsien. Statt aber dieser oder jener Tendenz zu folgen, rollt er das Problem, dabei einem alten Impuls folgend, doch völlig neu auf, indem er die prinzipielle Verwandtschaft von Literatur und Phänomenologie seiner “Theorie der Literatur” (7) zugrundelegt, denn auf je eigene Weise verwandeln beide die Welt in eine “Arena des Staunens” (8, 25) und arbeiten zudem daran, dass das Bekannte auch erkannt werde. Darum erscheint die Phänomenologie geradezu prädestiniert, das Sosein der Literatur zu erschließen.

Dabei macht es Lobsien weder sich noch dem Leser leicht, weil die Sache selbst keine leichte ist. Nirgends geht es um den “Stoff” literarischer Texte, an den sich die positivistisch gestimmten Kulturwissenschaften in ihrer “geschäftigen Inhaltlichkeit” so gern klammern (10), sondern durchgängig um Konstitutionsweisen literarischer Texte sowie um deren mentale Repräsentationen im Bewusstsein des Lesers. Eine besondere Stärke der Argumentation besteht darin, dass sich die Theoriebildung immer sogleich an Fallbeispielen bewähren muss. Diese stammen sowohl aus der englischen als auch der deutschen Literatur: Herangezogen werden Texte von Shakespeare, Sterne, Joyce, Beckett, Hebel, Richard Wagner, Raabe und Jandl.

Zentraler Ausgangpunkt für Lobsien ist im Anschluss an Ingarden die Beobachtung, dass literarische Texte aus Sprache bestehen und doch stets mehr als Sprache sind, weil hier das Sprachmaterial jenseits bloßer Propositionalität auf eine Weise organisiert ist, die eine “Selbstüberbietung” der Texte erlaubt (21). Wie kann das möglich sein? Da die Sprache im literarischen Text von der Referenz entlastet ist, stellt sie die Gegenstände ausschließlich in ihrer “strikt sprachlichen Identität” (45) dar. Das wiederum heißt, dass sie die Gegenstände unablässig perspektivisch zurichtet, dass sie also die Gegenstände nie vollständig repräsentiert, sondern notwendig Ansichten und Schemata davon, die dann ein selbständiges, die reine Sprachlichkeit übersteigendes Gefüge, nämlich eine Version der Welt, bilden. Lobsien nennt dies den “Formierungszwang der Sprache,” der dazu führe, dass sich im literarischen Text “Sprachform und Gegenstandsform nicht voneinander trennen lassen” (58). Daraus folgt, dass literarische Darstellung immer zugleich Selbstthematisierung der Sprache und Gegenstandsdarstellung durch Sprache ist; mit ihren Gegenständen stellt sich durchweg die Sprache selber dar. Hier zeigt sich wieder einmal, dass alle Literaturtheorie ohne eine korrelierende Theorie der Sprache gar nichts vermag.

Wenn Lobsien im Rekurs auf Ingarden und Husserl “Ansicht” und “Schema” als sprachtheoretisch fundierte, miteinander eng verschränkte Kernbegriffe zur Beschreibung der Gegebenheitsweisen von Gegenständen in literarischen Texten etabliert, so geht es im Grunde, wiewohl leicht variiert, jeweils um Modi sprachlicher Überformung. Während Ansicht meint, wie das Subjekt einen Gegenstand erlebt, bedeutet Schema die “Aktualisierung eines Aspekts” am Gegenstand und lässt andere Aspekte in den Hintergrund treten (78). Anders gesagt: Jedes Schema offeriert eine Teilansicht eines Gegenstands. Für die Konstitution und Rezeption literarischer Texte ist dieses “Schema-Prinzip” entscheidend (76f.), nicht zuletzt, weil im Widerspiel von Ansichten und Schemata lebensweltliche Orientierung erzeugt werden kann, was bekanntlich zu den wichtigsten Vermögen der Literatur überhaupt gezählt wird.

Diese im ersten Hauptteil entwickelten Zusammenhänge verfolgt Lobsien dann in ihren verschiedenen Dimensionen und Konsequenzen: beispielsweise in den Korrelationen von Konsistenz und Kontingenz, von Wirklichkeit und Möglichkeit oder von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Ferner untersucht er in expliziter Abgrenzung [End Page 296] vom spatial turn, wie literarische Räume durch welche textuellen Verfahren konstituiert werden, ebenso wie “literarische Zeiten” (169), wobei er jeweils direkt an seine frühere, längst kanonische Studie über Wörtlichkeit und Wiederholung anschließen kann. Denn ohne Strukturen der Wiederholung kommen weder literarische Räume noch spezifische Textzeiten zustande. Und gleichsam nebenher rehabilitiert er die lange verachtete “Einfühlung” als gleichermaßen unverzichtbaren wie...

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