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  • Tribunal der Blicke: Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800 by Claudia Benthien
  • Ehrhard Bahr
Claudia Benthien, Tribunal der Blicke: Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800. Köln, Weimar: Böhlau, 2011. 267 S.

Um es vorwegzunehmen: dieses Buch ist keine leichte Lektüre und verlangt intensive Mitarbeit vom Leser. Die Verfasserin ist Professorin für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt auf Gender-Forschung an der Universität Hamburg. Sie sucht die von der US-amerikanischen Kulturanthropologie eingeführten Begriffe von shame culture und guilt culture (Ruth Benedict, Margaret Mead) in der Tragödie um 1800 nachzuweisen. Ihre These lautet, dass sich um 1800 “mit der Philosophie des Tragischen überdies eine Auffassung der menschlichen Existenz [entwickelt], die das der Tragödie entnommene Schuldkonzept anthropologisiert und universalisiert. Zugleich entstehen neue Auffassungen über die Bedeutung von Scham und Schamhaftigkeit” (18). Dazu kommt der Begriff eines “Tribunals der Blicke,” insofern Scham “mit der Dimension der Visualität” verbunden ist, während Schuld “mit der Dimension der Auditivität” zusammenhängt (9–10). Die Untersuchung erstreckt sich auf je zwei Tragödien von Schiller und Kleist: Die Jungfrau von Orleans (1801) und Die Braut von Messina (1803) sowie Die Familie Schroffenstein (1803) und Penthesilea (1808). Dabei unter scheidet die Verfasserin zwischen mittelalterlichen Affektkulturen für Die Jungfrau von Orleans und Die Familie Schroffenstein und antiken Affektkulturen für Die Braut von Messina und für Penthesilea. Scham und Schuld werden jedoch nicht schematisch auf die Dramen der einen oder anderen Affektkultur verteilt, sondern es geht der Verfasserin um die Wechselwirkungen von Scham und Schuld innerhalb der vier Dramen. Zum Beispiel werde “Scham vielfach durch Schuld (Aggression) abzuwehren gesucht, aber sie wird auch . . . von der affektiv betroffenen Person als Schuld ‘behauptet,’ wodurch die beschämte Person leichter wieder in die Gemeinschaft integrierbar” sei (17). An der Figur der Jungfrau von Orleans weist die Verfasserin diese Wechselwirkungen höchst einleuchtend anhand der Begegnung mit dem englischen Anführer Lionel nach. Indem Johanna dem überwundenen Feind ins Gesicht sieht, ergreift sie “sein Anblick” (Akt 3, Szene 10). Das bekannte Blick-Ereignis bestätigt die These der Verfasserin. Johannas “persönlicher Sündenfall” führt zur Selbsterkenntnis (117). Im folgenden Monolog der Jungfrau kommt die Erkenntnis der Schuld akustisch zur Geltung (Akt 4, Szene 1). Mit dem von der Forschung vielerwähnten Schulddiskurs ist ein Schamdiskurs verbunden. Johanna stellt das Wort “Scham” in ihrer Gewissenserforschung heraus (Akt 4, Szene 1, v. 2550). Dieser Schamdiskurs findet seine Fortsetzung in dem nachfolgenden Dialog mit Agnes Sorel (Akt 4, Szene 2). Johanna erlebt den Höhepunkt ihrer Beschämung in der Konfrontation mit ihrem Vater, als “alle Blicke . . . auf sie gespannt [sind]” (Akt 4, Szene 11). Die Verfasserin deutet diese [End Page 295] Szene als “Transformation von Scham in Schuld” (128). Indem Johanna “eine Schuld auf sich nimmt, die sie nicht hat,” gewinnt sie den Freispruch von der Anklage ihres Vaters (129). In der Apotheose ihres Todes auf dem Schlachtfeld gelingt ihr der Zugang zum “ästhetisch Erhabenen” und damit “eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft und eine symbolische Abtrennung von ihr für immer” (133). In den übrigen Dramen lassen sich die Wechselwirkungen von Scham und Schuld nicht so eindeutig identifizieren wie in der Jungfrau von Orleans. In der Familie Schroffenstein handle es sich um eine “Scham-Schuld-Zyklizität.” Bei den verfeindeten Familien lösten sich Scham und Schuld gegenseitig ab (138). Ein ähnlicher Scham-Schuld-Zyklus lasse sich in der Braut von Messina erkennen. Bei Don Cesars Selbstmord handle es sich um “eine finale Wendung des Helden gegen sich selbst” (184). Doch bleibe es fraglich, ob es ihm damit gelingt, die Schuld—“der Übel größtes,” wie der Chor verkündet—zu transzendieren (187). Kleists Penthesilea wird als Gestaltung “einer archaischen Schamkultur” gelesen. Damit wird die “bei Schiller vorherrschende Schuldkultur” als historisch überholte Lösung des Tragischen hingestellt (224).

Es fragt sich, ob die relativ schmale Textbasis dazu ausreicht, um einen neuen Typus der Tragödie um 1800 anzusetzen. Aber darum geht es der Verfasserin auch nicht ausschließlich. Claudia Benthien hat in den Freiburger literaturpsychologischen Gesprächen die Ästhetisierung femininer Scham bei Arthur Schnitzler und Tania Blixen aufgewiesen...

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