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  • Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie by Albrecht Koschorke
  • Stephan Jaeger
Albrecht Koschorke. Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012. 480 pp. €24.99 (Hardcover). ISBN 978-3-10038-911-4.

Die Erwartungen, die der Klappentext sowie der Untertitel von Albrecht Koschorkes im Oktober 2012 veröffentlichten Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie wecken, sind gewaltig. Es geht um nichts weniger, als darum, die erste allgemeine Erzähltheorie zu schaffen, „die systematisch über ihren klassischen Geltungsbereich, die Literatur, hinausgeht.“ Der Konstanzer Germanist und Kulturwissenschaftler fasst sein theoretisches Ziel entsprechend wie folgt: „Dabei wird es notwendig sein, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die es erlaubt, Kulturen als polyzentrische, vielstimmige, zeitoffene, unfertige, von Narrativen mit unterschiedlichen Laufzeiten und Geltungsreichweiten [End Page 233] durchwobene Formationen von sozialer Energie zu analysieren“ (109). Koschorke unterteilt seine Analyse in sechs Kapitel, die sich in fast konzentrischen Kreisen durch kommunikative und semiotische Strukturen und Konstellationen von Kultur bewegen. Im Einleitungskapitel zur „Universalität des Erzählens“ ersetzt er Johan Huizingas Terminus des homo ludens, des spielenden Menschen, durch den des homo narrans, des erzählenden Menschen, womit das anthropologische Erkenntnisziel Koschorkes deutlich markiert ist.

Das zweite Kapitel „Elementare Operationen“ beschreibt Grundtechniken des Erzählens von Schemabildung, über Distanzbildung, Rahmung, Motivation zur Erzählinstanzen und Affektbildung, um nur einige zu nennen, ohne sich allerdings mit Beispielen konkreter Erzählakte aufzuhalten. Für Koschorke ist entscheidend, Erzählungen in ihrem Sozialgefüge zu verstehen: „Weitererzählen heißt Entdifferenzierung der auf diesem Weg mitgeteilten Wissensbestände; Ent-differenzierung öffnet das semantische Feld und erhöht die Konnektivität in der Kontaktzone sozialer Sphären“ (40). Koschorke erweitert und dynamisiert – geprägt von Diskursanalyse, Systemtheorie und Medienwissenschaften und insbesondere von Theoretikern wie Jurij Lotman, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu – die strukturalistisch-anthropologische Text– und Literaturtheorie, sodass sie fließende kulturelle Formationen erfassen kann. Erzählungen gehen nach Koschorke binären Strukturverfestigungen voraus und lassen sich damit als „kulturelle[s] Fluidum“ (22) fassen, aus dem binäre Codes erst entstehen. Das Binäre taucht durch Koschorkes Untersuchung hindurch immer wieder in unterschiedlichen Begriffspaaren wie heiß-kalt, nah-fern oder Kultur-Natur auf. Die Dichotomie von Hitze und Kälte, und ihr immerwährender dynamischer Zweikampf, illustriert dabei am deutlichsten, wie Koschorke Kommunikation im Rahmen sozialer Prozesse fasst: Eine institutionelle Stabilisierung führt zu einer Abkühlung von Zeichensystemen, wohingegen eine Störung von institutionellen Routinen diese Systeme erhitzt. Entsprechend basiert soziale Kommunikation auf Relationen, die Koschorke im dritten Kapitel „Kulturelle Felder“ mit Hilfe von Lotmans Kultursemiotik zu einer Kulturtheorie ausbaut, die statt metaphysischer Implikationen und fester Bedeutungszuweisungen Kultur als „offenen Raum ihrer differentiellen Konfigurationen“ (166) begreift.

Zunehmend wird deutlicher, dass Koschorke sich nur am Rande für Erzähltechniken interessiert. Vielmehr besteht sein Interesse darin, die kulturellen und kommunikativen Elemente von Gesellschaften als dynamische Zeichensysteme bzw. polyzentrische Gebilde zu begreifen. Erzählungen in Form von Narrativen spielen für die Schaffung von Bedeutung und sogenannten Integrationskernen sowie für Auflösungstendenzen von Bedeutung eine besondere Rolle. Sie erlauben einerseits eine anschauliche Konkretion durch vorhandene, einprägsame Erzählkerne, andererseits auf unvorhersehbare Weise die Dynamisierung ihres Handlungsschemas durch die Einbildungskraft der Rezipienten. Im vierten Kapitel „Modellierung von sozialer Zeit“ – mit starkem Bezug auf Aleida Assmanns Überlegungen zum Kulturellen Gedächtnis – lassen sich Erzählungen demgemäß als Medium sozialer Zeit lesen. Es ist entsprechend nur konsequent, dass [End Page 234] Koschorkes interessanteste erzähltheoretische Beobachtungen sich auf kollektive Erzählungen beziehen, zum Beispiel Ursprungsmythen, die als „Aktivierungsmuster von wirklichen oder retrofiktional erzeugten Vergangenheiten“ (220) verstanden werden. Koschorke zeigt hierbei am Narrativ der Säkularisierung, wie dieses als eine der Selbsterzählungen der Moderne seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert fungiert, an der sich Fortschrittsfreude und Zivilisationskritik konstant reiben, ohne das Narrativ als solches gefährden zu können. Im Folgekapitel (V) über „Narrative und Institutionen“ markiert Koschorke dann die institutionell-diskursive Verbundenheit jeder Erzählung. Er beobachtet, dass das Besondere der Erzählung an den Prozessen der kulturellen Produktion von Wissen darin bestehe, dass diese im Unterschied zu abstrakten Normen und Gesetzen nicht deduktiv dem Allgemeinen unterworfen sei, sondern mit singulären Ereignissen umgehen könne. Das Schlusskapitel...

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