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  • Neuronale Ästhetik. Zur Morpho-Logik des Anschauens von Olaf Breidbach
  • Hans Adler
Neuronale Ästhetik. Zur Morpho-Logik des Anschauens. Von Olaf Breidbach. München: Wilhelm Fink, 2013. 286 Seiten. €34,90.

Wir sind seit einiger Zeit Zeugen bemerkenswerter Aktivitäten in den Wissenschaften, in denen Empirismus und Technologietransfer Leitwerte sind. Leitdisziplin in dieser Konstellation innerhalb der Naturwissenschaften ist die Biologie, und innerhalb der Biologie—mit vielfältigen Ausfächerungen in die Medizin und Chemie—sind es die Neurowissenschaften, die Nachfolger der Genetik in führender Position geworden sind. Man mag das getrost als einen Paradigmenwechsel bezeichnen, denn genau das—eine Übernahme traditionell geisteswissenschaftlicher Domänen mit dem Ziel, weg von der Spekulation hin zu verlässlichen Daten zu kommen—ist der Anspruch der Neurowissenschaften. Verblüffend—zumindest auf den ersten Blick—ist, dass ausgerechnet die Ästhetik die Aufmerksamkeit von Neurowissenschaftlern auf sich zieht und langjährige programmatische Fokussierungen von Forschungsprogrammen bewirkt hat. Die Frage drängt sich auf, warum ein hochelaborierter Bereich der Naturwissenschaften mit beachtlichem Energieeinsatz sich auf das Feld der Ästhetik begibt, und das nicht als zufälliges lokales Ereignis, sondern international.

In diesen Kontext des 2002 geprägten Begriffs “Neuroästhetik” für ein umfassendes Forschungsfeld schreibt Olaf Breidbach sich mit seinem Buch ein. Im Unterschied aber zu neurobiologischen Attacken auf die Humanities, denen schlicht die Kompetenz im Bereich der Ästhetik abgesprochen wird, ist Breidbachs Buch eine Einladung zur Kooperation zwischen Neurowissenschaften und Humanities. Und der Autor bringt gute Voraussetzungen mit, solche Einladungen auszusprechen. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Naturwissenschaften in Jena und Direktor des Ernst-Haeckel-Hauses, das das Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften [End Page 691] und Technik beherbergt. Mit seinen beiden Dissertationen in Philosophie (1982) und Biologie (1984)—die eine zu Hegel, die andere zum Cerambyciden Hylotrupes bajulus, vulgo Hausbock—ist Breidbach bestens ausgerüstet für transdisziplinäre Erkundungen und, wie die überwältigende Zahl seiner Monographien, wissenschaftlichen Aufsätze und Editionen belegt, ein international sichtbarer Forscher mit beträchtlicher Energie. Es sei vorausgeschickt, dass Breidbach lesen nicht zu den einfachsten Übungen gehört, dass aber von Breidbach lernen jede Mühe wert ist.

Der beherzte Zugriff der Neurowissenschaften auf die Ästhetik ist ein strategisch kluger und packt die Ästhetik wirkungsvoll an einem selbstverschuldeten Blind-fleck, nämlich dort, wo Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis zugunsten eines Verständnisses von Ästhetik als Theorie des Schönen und der Künste verdrängt wurde. Damit füllen die Neurowissenschaften, ohne sich in der Regel dieser Tradition bewusst zu sein, eine Lücke, und die Frage ist, ob das von ihnen okkupierte Feld der Ästhetik in ihrer Ambiguität als Theorie der sinnlichen Erkenntnis und Erfahrung auf der einen und als Theorie des Schönen und der Künste auf der anderen den Humanities definitiv entzogen werden kann. Auch in diesen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext schreibt Breidbach sich ein.

Breidbachs Buch ist ein programmatisches, in die Zukunft weisendes, auch ein Wunschbuch, wie die zahlreichen “könnte” und “wäre” als potentiale Konjunktive belegen, eine anspielungsreiche “Vorschule der Ästhetik ” (213), eine unausgesprochene Weiterführung von Kants kopernikanischer Wende, diesmal auf naturwissenschaftlicher Basis: “Nicht die Objektivierung des Subjektes, sondern umgekehrt die Sicherung des Objektes im Subjekt gilt es zum Ansatz einer wirklich auch ästhetischen Sicht auf die Welt zu nehmen” (212; vgl. auch 233). All das mit dem Ziel, eine “neue Phänomenologie” (13) zu schaffen.

Breidbachs begreift Ästhetik als Wahrnehmungslehre, und er schließt explizit mit dieser Lesart des Begriffs an den Begründer der Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten an, dessen Aesthetica (1750/58) Breidbach mit seiner Neuronalen Ästhetik fortschreiben möchte (263). Die gemeinsame Schnittmenge beider Ästhetik en ist die Aisthesis, die sinnliche Wahrnehmung oder Erkenntnis, als deren Wissenschaft Baumgarten seine Ästhetik definiert hatte. Das ist ein wichtiger Bezugspunkt Breidbachs zur Geschichte der Ästhetik.

In fünf Kapiteln fräst Breidbach sich durch eine dschungelartige Flora wissenschaftlicher und anderer Literatur, die eine seltene Diversität aufweist; von Biochemie bis Goethe und Thomas Mann ist einiges vertreten. Im Unterschied aber zum eher oberflächlichen Wissenschaftsjournalismus spielt Breidbach seine Expertise voll aus und lädt ein ins Land des Ungedachten. Es ist, als Fluchtpunkt, das Land, wo Geist und...

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