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  • Verskunst. Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht? by Volker Klotz
  • Gert Sautermeister
Verskunst. Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht? Von Volker Klotz. Bielefeld: Aisthesis, 2011. 313 Seiten. €24,80.

Eine Gattungspoetik mit eingehenden Textanalysen ist ein seltenes Ereignis. Wenn ein Meister der Interpretation—Volker Klotz ist durch vorbildliche Textanalysen zur erzählenden, dramatischen und lyrischen Gattung hervorgetreten (Erzählen, München 2006)—eine derartige Verbindung erprobt, dann erhöht das den Seltenheitswert des Ereignisses. Es verlockt zu eingehender Kenntnisnahme und einigen kommentierenden Hinweisen.

Der Autor erörtert zunächst (in Teil I "Lyrik im Allgemeinen") ein dem Liebhaber lyrischer Gedichte nicht unvertrautes Phänomen: die zeitweilige Suspension der "grammatischen," "primären Regelungen" des korrekten Sprachgebrauchs durch "ungrammatische," "sekundäre Sprachregelungen" in "lyrischer Ausdruckskunst" (24 u. 29). "Planvoll, je nach Bedarf," so Klotz, "widersetzen sich poetische Werke dem gängigen, verbindlichen Wortgebrauch und Satzbau," beispielsweise dort, wo das Gedicht "via Klang und Rhythmus Zusammenhänge heraufbeschwört, die sich den gebräuchlichen Regelungen von Satzbau, Wortbildung und Wortbedeutung entziehen" (24). Dass aus "kunstvoll normwidrigen Verschränkungen der Wörter" unversehens "treffende Sprachbilder" von "poetischer Evidenz" entstehen können (ebd.), demonstriert Klotz virtuos an Verszeilen aus Goethes Willkommen und Abschied, aus Mörikes Peregrina-Zyklus und—mit komödiantischer Volte—aus Wilhelm Buschs Tobias Knopp. Motiviert durch diese Miniatur-Poetik ungrammatischnormwidriger Ausdruckskunst, verfolgt der Leser mit Spannung die Makro-Poetik des nachfolgenden Kapitels: "Sieben Merkmale lyrischer Gedichte" (32-52). Der Spannung gesellt sich, das sei vorweg gesagt, rasch das Vergnügen zu. Denn Klotz formuliert auch schwierige und komplexe Sachverhalte so einprägsam, wie der Leser es von seinen bisherigen Veröffentlichungen gewohnt ist. Eine prägnante und pointierte Diktion, die Stereotypen vermeidet, ein Sprachgebrauch, der den Gegenstand mit scharfem Umriss kenntlich macht, ihm von Fall zu Fall durch ein Wortspiel Glanz verleiht oder ihn durch Bilder suggestiv versinnlicht—diese Vorzüge der Prosa von Klotz kehren hier wieder und beflügeln die Lektüre.

Orientiert am Druckbild des Gedichts, seiner "typographischen Gestalt" (49), die selten mehr als eine Druckseite umfasse und den "knappen Vers-Raum" (51) durch den "extra breiten" Seitenrand auffällig begrenze (33), erläutert Klotz die sieben lyrischen Merkmale konzentriert und bündig: "Fabel-los" (1), "Kurz, prägnant" (2), [End Page 320] "Lyrisches Ich, seine All- und Alleinperspektive; seine All- und Alleinstimme" (3 und 4), "Vers-Raum für Eigen-Zeit" (5), "Synästhetischer Vollzug" (6), "Gedicht als klingende Gemme" (7).

Vielleicht wurde hier die magische Zahl "sieben" federführend, wesentlicher ist jedoch, dass der Autor einen Vorstoß in ein schwieriges Gelände, fast eine terra incognita wagt. Wer hätte vor ihm den Mut besessen, die ein lyrisches Gedicht auszeichnenden Merkmale namhaft zu machen?! Klotz hütet sich vor Verallgemeinerungen und stellt klar, "dass diese Merkmale nicht überall und ausnahmslos in jedem Gedicht sich gleichermaßen geltend machen" (32). Er zeigt jedoch ihre Formkraft anhand von Textbeispielen überzeugend auf, etwa in Punkt 5 die lyrische eigenwillige Aufhebung der normalen chronologischen Zeitenfolge, die sich in Zeitensprüngen, temporalen Umkehrungen oder im Ineinanderspiel gegensätzlicher Zeitebenen äußern kann.

Die von Klotz angeführten Charakteristika haben fast durchweg erhellende Kraft. Sie schärfen den Blick für lyrische Eigenarten und—sie fordern diesen Blick auch produktiv heraus. So darf man bei Punkt 3 und 4 trotz aller generellen Zustimmung sich fragen, ob nicht das eine und andere Gedicht die "All- und Alleinperspektive" des lyrischen Ichs unterlaufe, wenn beispielsweise dessen bewusste Stimmführung durch eine ihm unbewusste Gegenstimme durchkreuzt wird, wie dies bei Heine gelegentlich der Fall ist (vgl. dazu Johann Jokl, Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe, Opladen 1991). Und auch wenn man dem ersten lyrischen Merkmal der "Fabellosigkeit" grosso modo beipflichtet, lassen sich Ausnahmen von dieser Regel konstatieren—beispielsweise den Grundriss einer Fabel in dem (an anderer Stelle) zitierten Gedicht Rückkehr von Eichendorff, in dem die Fabel-Elemente verschränkt sind mit den lyrischen Komponenten, wie Klotz sie für den ästhetischen Rang eines Gedichtes namhaft macht: seine besonderen Zeitformen, seine rhythmisch-musikalischen Bausteine, seine Kürze und Prägnanz. Dem Begriff Prägnanz verleiht Klotz im übrigen einen überraschenden einleuchtenden Doppelsinn: er bezeichnet einerseits die markante "Typographik einer bedruckten Seite" und...

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