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  • Fremdheitserfahrungen als Konstante
  • Daniela Colombo

Christa Wolfs Werk ist—geprägt durch den eigenen biografischen Erfahrungsdruck—eine stete Auseinandersetzung mit Geschichte und deren Fehlentwicklungen. Die Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus haben zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Strukturen, Beschädigungen und Kontinuitäten des Faschismus geführt. So war das Leben in der DDR eines in der Dauerspannung zwischen Anpassung und Widerstand, während die Jahre nach 1989 nach der persönlichen Verstrickung und Verantwortung fragten.

Folgt man den äußeren Koordinaten von Wolfs Lebenslauf, dann fällt diese verdichtete Geschichtserfahrung auf. Ihre Biographie kann gelesen werden als eine Chronik fortgesetzter Abschiede und Anfänge. Diese Erfahrungen fanden auch Eingang in Wolfs Schreiben, so handeln viele ihrer Texte durch all die Jahrzehnte von autobiografischer Vergangenheitsbewältigung und Selbstbefragung. Darin eingewobene wiederkehrende Themen sind unter anderem der fatale Hang nach Übereinstimmung und die damit verbundene Anstrengung, dagegen anzuleben.

In ihrer Literatur interessierte sich die Autorin aber nicht für das saubere Abschildern des historischen Stoffes, sondern es ging ihr stets um die „Bewältigung der Vergangenheit in der Gegenwart,“1 respektive um das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart. Diese 1973 in einem Gespräch mit Hans Kaufmann geäußerte Haltung lässt sich seit Nachdenken über Christa T. (1968) als Konstante in ihrem Oeuvre nachweisen.

Der Erfahrungsdruck bestimmt den Blick auf die Vergangenheit, in den Worten des Historikers Klaus Bergmann:

Geschichte ist immer ein Nachdenken über Vergangenheit, das in einer Gegenwart stattfindet und von Zukunftserwartungen beeinflusst wird. Mit fortschreitender Zeit, mit wachsenden Lebenserfahrungen und neuen Herausforderungen ändern sich die Gegenstände der Erinnerung und die Erinnerungen selber. Die Erinnerungen werden auf die Situation hin entworfen, in der der Erinnernde sich befindet.2 [End Page 365]

Betrachtet man Wolfs Romane und Erzählungen nach 1989, so zeigen sich zu den Vorwendetexten Brüche, aber auch Kontinuitäten.

Zu den wesentlichsten Fortschreibungen gehören die unterschiedlichen Fremdheitserfahrungen. So fragen sowohl Kindheitsmuster als auch Stadt der Engel der eigenen Fremdheit nach, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal in der Aufspaltung der Personalform manifestiert. Sommerstück erzählt wie auch Kein Ort. Nirgends oder Was bleibt vom unfreiwilligen Außenseitertum in der Gesellschaft, während Auf dem Weg nach Tabou die Fremdheit zum eigenen „neuen“ Land formuliert. Und Medea ist als selbstbestimmte Frau und Ausländerin in Korinth eine doppelt Fremde, wobei der Roman den Umgang mit den und dem Fremden ausführlich thematisiert. Im Folgenden sollen in einer Art Tour d’horizon diese unterschiedlichen Fremdheitserfahrungen beleuchtet werden.

Fremd bin ich mir selbst: Kindheitsmuster und Stadt der Engel

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Kindheitsmuster wird mit diesem William-Faulkner-Zitat eingeleitet, das bereits Alfred Andersch einem Roman voranstellte,3 jedoch hier von Christa Wolf markant mit dem folgenden zweiten Satz ergänzt wurde: „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“4

Dahinter steht die Erfahrung, dass die Zeit des Nationalsozialismus die deutsche Gegenwart der 70er Jahre noch immer beeinflusste.5 Viele Verhaltensweisen und Reaktionen aus der Generation der Autorin hängen mit der Kindheit im Faschismus zusammen.6 Die Erkenntnis, dass das Vergangene nicht tot ist, wird gepaart mit der persönlichen Erfahrung von einem „Gefühl der unheimlichen Fremdheit“7 gegenüber der eigenen Kindheit. Um funktionstüchtig zu bleiben, musste vergessen und verdrängt werden,8 was im Laufe der Zeit zwangsläufig diese Fremdheit und Betäubung auslöste. Kindheitsmuster ist ein komplexes Buch mit vielen Ebenen. Es ist nicht nur eine Erzählung über eine Kindheit im Faschismus, sondern auch über eine national-sozialistische Kindheit, in der die Lebensstrategie der Eltern auf Anpassung beruhte und in der die Eltern sich definierten durch das, was sie nicht waren.9 So hatten die Eltern der Erzählerin weder jüdische noch kommunistische Freunde und Verwandte, keine Erb- und Geisteskranke in der Familie, keine Auslandsbeziehungen, keine Fremdsprachenkenntnisse oder Hang zu zersetzendem Gedankengut. Laut Lothar Baier führt der Roman vor, „wie tief die Instanz der ,inneren Befehlsgewalt‘ in die Individuen versenkt ist und welch kompliziertem Zusammenspiel von Selbstzensur, Selbstverleugnung, Realitätsausblendung bei gleichzeitiger Anpassung an Tatsachenzwänge sie ihr Funktionieren verdankt. Dieses eingeübte Zusammenspiel verlernt sich nicht von heute auf morgen...

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