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Reviewed by:
  • Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im “Mann ohne Eigenschaften” by Lilith Jappe
  • Maximilian Aue
Lilith Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im “Mann ohne Eigenschaften”. Musil-Studien, Bd. 38. München: Wilhelm Fink Verlag, 2011. 472 S.

Mit Recht beansprucht Lilith Jappe für ihre Freiburger Dissertation eine gewisse Sonderstellung innerhalb der psychoanalytisch ausgerichteten Musilliteratur. Anders als die meisten Forscher auf diesem Gebiet vermeidet sie es weitgehend, einen “psychoanalytischen Maßstab” (44) an Werk oder Autor heranzutragen und beschäftigt sich auch kaum mit Musils bekannt ambivalentem Verhältnis zur Psychoanalyse. Stattdessen nimmt sie Musils bekanntes Wort, er wolle—gerade im Mann ohne Eigenschaften—Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt leisten, ernst und untersucht im ersten von drei Hauptteilen ihres Werkes “zunächst ohne psychoanalytische Vorannahmen” (43) den Roman im Hinblick auf seine literarische “Erkenntnisbemühung” (45) um ein “authentische[s] oder ‘eigentliche[s]’ Selbst” (14). Diese stellt [End Page 145] sie dann im zweiten Hauptabschnitt ihres Buches parallelen Bemühungen auf dem Gebiet der Psychoanalyse gegenüber. Erst auf den letzten 38 Seiten des Schlussteils ihres Buches gibt sie ihre psychoanalytische Enthaltsamkeit auf und nutzt die Resultate ihrer Gegenüberstellung zu einer interessanten hypothetischen ‘Antwort’ auf die im unvollendeten Roman offen bleibende Frage nach dem rechten Leben und dem dazu erforderlichen Selbst. Auf die Details ihrer Antwort wird im Folgenden noch einzugehen sein.

Die ersten beiden Hauptteile von Jappes Buch sind referierender Natur und bringen nicht viel Neues. Ihr großes Verdienst liegt vielmehr darin, dass sie in ihrer Übersichtlichkeit und Klarheit einen ausgezeichneten Einblick in ihren jeweiligen Gegenstand verschaffen. Da die Problematik des Selbst im Mann ohne Eigenschaften zentral ist, berührt Jappes Untersuchung nahezu alle wesentlichen Themen des Romans. Sie erhellt die Bedeutung von Termini wie “Eigenschaftslosigkeit”, “Seinesgleichen” und “anderer Zustand” sowie auch die spezifisch Musilsche Sichtweise von Wahnsinn, Verbrechen, Selbstliebe und Gleichnis. Insbesondere verweist Jappe auch auf die Wichtigkeit von Gewalt und Liebe (in ihrer besonderen Musilschen Bedeutung) als binäre Grundverhaltensweisen zur Wirklichkeit hin, legt deren vielfältige Beziehungen zur Romanwelt sowie zu Ulrichs Gefühl und Erkennen tabellarisch klar dar. Auf diese Weise gewinnt man einen ungewöhnlich klaren Einblick in die zentralen Anliegen des Romans. Von ähnlicher Klarheit ist auch Jappes historisch geordneter Überblick über psychoanalytische Theorien zur Entwicklung des Selbst seit Freud. Hier zeigt sie, dass sich die Auffassungen von der Entwicklung des menschlichen Selbst innerhalb der wichtigsten Schulen der Psychoanalyse bei aller unterschiedlicher Schwerpunktsetzung weitgehend gleichen. Allen Richtungen zufolge entsteht das Selbst des Menschen dadurch, dass es sich in einem (sekundären), in gewisser Hinsicht gewalttätigen Prozess aus einem primärnarzisstischen Zustand der Verbundenheit mit seiner (Mutter-)Welt ablöst und sich einer nun als außer sich befindlich empfundenen Objektwelt entgegensetzt—wobei das Primärverhältnis aber immer mehr oder weniger unterschwellig vorhanden ist und in gewissen Zuständen, wie z.B. im Traum, in der Liebe oder im Wahnsinn wieder dominieren kann.

Der dann erfolgende Vergleich zwischen Selbstkonstitution im Roman und in der Psychoanalyse führt zu Jappes oben angesprochener und von ihr als “Gedankenexperiment” (43) bezeichneter Hypothese zu Fortsetzung und Abschluss des Mannes ohne Eigenschaften. Der Grund für Ulrichs Aporie am Ende der fertigen Teile des Romans liegt für sie darin, dass ihm zur unterschwellig [End Page 146] erwünschten Beendigung seiner gewissermaßen primären symbiotischen Verschmelzung mit seiner Schwester im anderen Zustand der nach der Psychoanalyse erforderliche gewalttätige Trennungswille fehlt. Er fehlt ihm, meint Jappe, trotz der Selbstbeobachtung, dass er sich stets von der Welt abgesetzt und diese schonungslos angegriffen habe; denn diese gegen Ende des ersten Buches des Mannes ohne Eigenschaften erfolgende Selbsteinschätzung trifft, so Jappe, nur bedingt zu. Nur “auf der Ebene des Denkens, der Logik, der Mathematik” habe sich Ulrich bisher seiner Umwelt entgegengesetzt, “nicht aber auf der Ebene des tätigen Handelns, wo er seinem Willen vielmehr entfremdet ist und über den Automatismus seiner Handlungen klagt” (443, Anm. 4). Die Folge dieser fehlenden Willenskraft ist für Jappe, dass Ulrich den Schritt zur Erlangung eines psychoanalytisch normalen, sinnvollen, aktiven Verhältnisses zur Welt nicht gehen kann; woraus für...

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