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  • Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900-2010. Erster Halbband: Andres bis Loest
  • Stefan Jordan
Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900-2010. Erster Halbband: Andres bis Loest. Herausgegeben von Gertrud Maria Rösch. Stuttgart: Hiersemann, 2011. 406 Seiten. €378,00.

Das Spannungsverhältnis von Fakten und Fiktionen tritt nicht nur in Satiren, Parabeln und historisierender Literatur in besonderem Maße zutage, sondern auch in allen Werken, die sich der so genannten Schlüsselliteratur zurechnen lassen. Zu diesem Literaturgenre wird nach der klassischen Definition Fernand Drujons (1888) jedes [End Page 674] Buch gezählt, "das historische Fakten enthält, die mehr oder weniger durchsichtig verschleiert sind" bzw. "das eine historische Persönlichkeit vorführt oder unter angenommenen oder veränderten Namen auf solch eine Person anspielt." Aufgrund ihres engen Bezuges auf eine historische oder gegenwärtige Wirklichkeit und auf reale Personen wirkt die Schlüsselliteratur häufig anstößig, wie der Rechtsstreit um Klaus Manns Roman Mephisto nach 1966 verdeutlichte: Die Klage der Erben von Gustaf Gründgens gegen das Werk, in dem Gründgens für den Leser leicht erkennbar in der Figur des Hendrik Höfgen verschlüsselt wurde, führte die Frage, ob die künstlerische Freiheit höher zu bewerten sei als der Persönlichkeitsschutz, bis vor das Bundesverfassungsgericht. Dieser bestätigte 1971 das zuvor ergangene Verbot des Romans aus Gründen des Persönlichkeitsrechts. Dass sich reale Personen oder deren Nachfahren durch Schlüsselliteratur verleumdet fühlen können, liegt an der Besonderheit des Genres, Wirklichkeit mit Fiktion vermischen, kontrafaktische Zusammenhänge herstellen oder nicht belegbare Tatbestände behaupten zu können. Genau auf dieser Besonderheit beruht darum auch die enorme Erklärungskraft der Schlüsselliteratur. Im Spiel mit der Wirklichkeit kann sie historisch-politische Deutungsmuster anbieten, die in einer ausschließlich faktenbasierten Wissenschaftsliteratur als bloße Spekulationen außen vor bleiben müssen. So führte etwa Ernst Weiß die zur Hybris übersteigerte Persönlichkeit Hitlers in seinem Roman Der Augenzeuge 1939 fiktiv-psychologisierend auf dessen Kriegserlebnisse zurück.

Im deutschen Sprachraum erhielt die Erforschung dieses politisch brisanten Lite raturgenres mit Georg Schneiders dreibändigem Werk Die Schlüsselliteratur (1951-53) eine Grundlage, die durch Röschs Projekt aktualisiert und verbreitert werden soll. Geplant sind 133 Artikel über Verfasser von Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts, von denen 75 Beiträge aus der Feder von 46 Autorinnen und Autoren bereits im vorliegenden ersten Halbband zu finden sind. Alle Artikel folgen einem festen, zweiteiligen Schema: Sie beginnen in einem ersten Teil mit einer Kopfzeile, in der der Verfassername sowie Geburts- und Sterbedaten und -orte genannt werden. Daran anschließend wird auf biographische Artikel zu den jeweiligen 'Schlüsselliteraten' in den großen einschlägigen Literaturlexika (u.a. Deutsches Literatur-Lexikon; "Killy"; Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur) verwiesen. Es folgen eine kurze Würdigung des Gesamtwerks und eine Auswahlbibliographie der wichtigsten Veröffentlichungen des betreffenden Schriftstellers. Der zweite Teil der Artikel ist den Schlüsselwerken der jeweiligen Schriftsteller gewidmet. Er beginnt jeweils mit einer kurzen Inhaltsangabe, um dann ausführlich auf "Verschlüsselte Personen und Fakten" einzugehen, und endet mit einer Liste ausgewählter Sekundärliteratur zu dem betreffenden Werk. Während es dabei in einigen Artikeln—wie etwa Ingeborg Bachmanns Roman Malina—fast ausschließlich darum geht, reale Persönlichkeiten (hier: Max Frisch, Paul Celan, Siegfried Unseld, Heimito von Doderer) zu entschlüsseln, steht in anderen Artikeln die Entschlüsselung von Fakten im Vordergrund: So geht der Beitrag über Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum ausführlich auf die publizistische Behandlung des Links-Terrorismus der 1970er Jahre durch die BILD-Zeitung ein, die im Roman literarisch verschlüsselt dargestellt wird.

In Fakten und Fiktionen sind nicht nur die bedeutendsten Vertreter der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts und deren Schlüsselwerke zu finden, wie etwa Thomas Bernhard (Holzfällen), Lion Feuchtwanger (Erfolg, Die Geschwister Oppermann, Exil), Uwe Johnson (Jahrestage), Ernst Jünger (Auf den Marmorklippen) [End Page 675] oder Wolfgang Koeppen (Tauben im Gras, Das Treibhaus). Auch die Schriften von Schriftstellern der 'zweiten Reihe' wie Hugo Bettauer (Die Stadt ohne Juden), Hermann Essig (Der Taifun) oder Gina Kaus (Die Schwestern Kleh) finden Berücksichtigung. Gerade hier sind f...

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