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  • Die literarische Pantomime. Studien zu einer Literaturgattung der Moderne
  • Rüdiger Singer
Die literarische Pantomime. Studien zu einer Literaturgattung der Moderne. Von Hartmut Vollmer. Bielefeld: Aisthesis, 2011. 541 Seiten + 39 s/w Abbildungen. €58,00.

"Wer eine Pantomime schreibt, muß Bühnenanweisungen schreiben, nicht metaphysische Stammeleien" (335), rügte Herbert Ihering das 1911 in Berlin erschienene Bändchen Grete Wiesenthal in "Amor und Psyche" und "Das fremde Mädchen": Szenen von Hugo von Hofmannsthal. Hartmut Vollmer zufolge zeigt diese Kritik "symptomatisch [. . .] ein generelles Missverständnis der Beziehung von pantomimischer Kunst und Dichtung" (335): 'Literarische Pantomimen' seien über ihre Funktion als inszenatorische "Anweisungstexte" hinaus (336) "eine besondere Textform, eine spezifische literarische Gattung, die beim imaginierenden und interpretierenden Leser eine produktive Rezeption effiziert" (41). Unter diesem Vorzeichen will er, was Ihering 'metaphysisches Stammeln' nennt, positiv wenden: "Versteht sich die Pantomime lediglich als eine mimetische Kunst, die menschliche Handlungen, bekannte Verhaltensweisen und Kommunikationsformen wirklichkeitsgetreu nachahmt, imitiert, so kann sie in Konkurrenz zum Sprechtheater schwerlich bestehen [. . .]. Ausdrucksgewinn bzw Ausdruckssteigerung wird hingegen dort erzielt, wo die Pantomime [. . .] über die verbalen Artikulations- und Gestaltungsmöglichkeiten hinausgeht, wo sie Ereignisse, Situationen, Stimmungen oder Dinge darstellt, Emotionen, Affekte, Leidenschaften, imaginäre Bilder, seelische Projektionen, die sich der konventionellen Sprache entziehen und mit dieser nicht adäquat zu erfassen sind, also etwas, das in verbaler Hilflosigkeit oft als 'unbeschreiblich' oder 'unaussprechlich' bezeichnet wird und was nach Hofmannsthal "'zu groß, zu allgemein, zu nahe ist, um in Worte gefaßt zu werden'" (39). Das letzte Zitat entstammt Hofmannsthals Aufsatz Über die Pantomime aus besagtem Bändchen von 1911. Von ihm ausgehend will Vollmer—nach einem kurzen Abriss der Pantomime von der Antike bis Ende des 19. Jahrhunderts—"eine Theorie der literarischen Pantomime evolvieren und gattungsspezifische Kriterien anführen, danach—im Mittelpunkt der Arbeit—ausgewählte deutschsprachige pantomimische Texte untersuchen, die, zwischen Anfang der 1890er- und Anfang der 20er-Jahre entstanden, einen wichtigen Beitrag im Entwicklungsprozeß einer dezidiert sprachkritischen und mit traditionellen ästhetischen Formen brechenden und experimentierenden literarischen Moderne darstellen" (10).

Was aber meint Vollmer mit seiner Formulierung, dass "die Pantomime [. . .] wirklichkeitsgetreu nachahmt, imitiert" und, sofern gelungen, darüber Hinausgehendes "darstellt"? Eine Pantomime als Aufführung kann dies zweifellos tun, und insofern sie dabei auf Figurenrede verzichtet, wird in der Tat eine "produktive Rezeption" verlangt—allerdings vom Zuschauer. Doch will Vollmer ja, wie zitiert, die Pantomime als "literarische Gattung" im Sinne eines Textes für den "imaginierenden und interpretierenden Leser" profilieren. Für diesen nun kann die Herausforderung prinzipiell eine doppelte sein, sofern er die beschriebenen Bewegungen sowohl imaginieren als auch interpretieren muss—etwa die folgende Passage aus Paul Scheerbarts Kometentanz (1900): "Wie der Dichter vor dem Könige steht, deutet dieser mit tiefer Verachtung auf seinen Hof und seinen Harem, dann mit verklärter Miene auf die Sterne des Himmels, auf die Instrumente, auf sich selbst—und zuletzt auf des Dichters Guitarre" (228). Tatsächlich aber scheint eine solch erklärungsabstinente Beschreibung die Ausnahme zu sein— typisch dagegen ist die explizierende Angabe "bittet ihn wieder zu gehen, [End Page 672] schon ganz schwach" (101) aus Schnitzlers Verwandlungen des Pierrot (1908). Ja, es finden sich in Pantomimen sogar "dialogische und monologische Passagen, die der stummen pantomimischen Kunst zu widersprechen scheinen [. . .]. Diese Sprechpassagen sind allerdings nur in der schriftlichen Form der Pantomime relevant und hier wie der übrige Text als Bühnenanweisungen zu betrachten, die einem vertiefenden Verständnis dienen und bei der Aufführung pantomimisch umzusetzen sind" (38). Wie dies gelingen soll, darf man sich bei Redepassagen wie "Du hast mich überall gesehen— überall zu sehen geglaubt—weil du mich liebst" (102, aus derselben Pantomime) aber durchaus fragen. Zudem gibt es Erzählkommentare wie "Kuru hat sich gerächt und ist wieder freier Segler und Kaufmann!" (170, aus Louisemarie Schönborns Der weiße Papagei von 1914) und, etwa bei Wedekind, ganze Szenen, deren "Unaufführbarkeit [. . .] einen ironisch-raffinierten Hinweis des Autors darauf [liefert], dass die Wirkung einer Pantomime auf die Imaginationskraft des Zuschauers angewiesen ist" (194).

Derartige Befunde lassen erahnen, wie fruchtbar es sein könnte, Pantomimen (wenigstens in einem ersten Schritt) als Lesetexte zu untersuchen. Formal wäre dabei eine bemerkenswerte Spannweite zu konstatieren zwischen den Extremen eines 'Lesedramas' in konventioneller Dramentypographie (etwa Schnitzlers Schleier der Pierrette...

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