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  • Stefan George. Dichtung—Ethos—Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland
  • Thomas Amos
Stefan George. Dichtung—Ethos—Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland. Herausgegeben von Bruno Pieger und Bertram Schefold: Berlin: Verlag für Berlin Brandenburg, 2010. 504 Seiten. €34,90.

Flankiert von zwei breit rezipierten Monographien (Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, 2007 und Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, 2009), findet gegenwärtig verstärkt die Hinwendung zu Stefan George statt, der, einem größeren Publikum seit dem Postbellum ohnehin fremd geblieben, lange Zeit selbst der Germanistik als neuromantischer Ästhet bzw. Wegbereiter des Nationalsozialismus galt. Der vorliegende, fünfzehn Aufsätze enthaltende Band ist jedoch keineswegs dieser modischen George-Renaissance verpflichtet, sondern verdankt, worauf das Vorwort der Herausgeber hinweist, zwei anderen Publikationen entscheidende Anregungen (vgl. 9ff.). So zeigt bereits die große Abhandlung Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg (2006) des Philosophen Manfred Riedel (1936–2009), wie Georges Lebenswerk und insbesondere sein transnationales, in der kulturellen Tradition des Abendlandes verwurzeltes Konzept des “Geheimen Deutschland” mit frappierender Folgerichtigkeit entscheidend auf den 20. [End Page 442] Juli 1944 hinführt. Komplementär dazu belegen die vor kurzem edierten Gesammelten Werke (2008) des Germanisten Rudolf Fahrner, Autor des von den Verschwörern geleisteten Eides, mit den autobiographischen Aufzeichnungen die “Kontinuität der Kreisarbeit nach Georges Tod” (11), zugleich aber steht Fahrner auch exemplarisch für das komplexe und facettenreiche Verhältnis der Mitglieder des George-Kreises zum Nationalsozialismus. Die Herausgeber eröffnen den Band mit einer fundierten, weit ausholenden Einführung in die Begrifflichkeit des “Geheimen Deutschland” (17–92) und beziehen dabei in Exkursen neben Karl Wolfskehl, der den Ausdruck 1910 erstmals verwendete, auch weitere emigrierte Mitglieder des George-Kreises und die Brüder Stauffenberg ausführlich ein. Die erste Abteilung “Gedichte und Mythen” folgt mit ausgesprochen textzentrierten Aufsätzen, wobei die Referenzgedichte meist Georges letzter Sammlung Das Neue Reich (1928) entstammen. Manfred Riedels Analyse (95–130) von Georges Gedicht “Goethes lezte nacht in Italien” vergleicht die unterschiedlichen Rom-Erfahrungen und -Eindrücke der beiden Dichter. Während George 1898 desillusioniert über ein herabgekommenes Land klagt, fühlte sich Goethe 1786–88 in Rom unentwegt an archetypische Urbilder erinnert (vgl. 97–103) und erlebte wenig später die Begegnung mit der Magna Graecia in Paestum, ergänzt durch die gleichzeitige Lektüre der Odyssee, als totales Verwandlungserlebnis. George habe dann anstelle Goethes diesen “Griechenlandtraum” (121) lyrisch realisiert, mithin ein Abschiedsgedicht von (und auch an) Italien geschrieben, bestehend aus sieben Einzelbildern, “die eine Vision der Erneuerung deutschen Geistes durch südliche Helle und Wiedergeburt antiken Menschentums umspielend” (Hervorhebung MR; 121). Von Goethe und Hölderlins Hyperion übernimmt George, so führt der Verfasser weiter aus, das heroische Paar der Dioskuren (vgl. 122f.), um angesichts der seit 1907 von christlicher Seite (R.A. Schröder, Rudolf Borchardt) erfolgenden Angriffe auf die für ihn selbst und für Europa so bedeutsame, in die griechische Antike zurückreichende Traditionslinie zu verweisen (vgl. 128ff.).

Christophe Fricker unterzieht das Gedicht Geheimes Deutschland einem close reading um zu klären, ob George darin ein politisches Programm entwirft (131–163). Insgesamt erkennt er ein Wechselspiel von privater und politischer Thematik: Nach dem einzelnen Personen aus dem Kreis gewidmeten Mittelteil halten die beiden letzten Strophen Georges Kritik an der Weimarer Republik unverändert aufrecht, erwarten jedoch keinen Wechsel der politischen Verhältnisse. Die Aufgabe des Dichters bleibe darauf beschränkt, Utopien vorzubereiten, indem er sie voraussieht und dichterisch ausgestaltet: Die letzte Strophe sei “eine Vision, etwas vom Dichter Gesehenes, das er als Prophezeiung verkündet, ohne das Gesehene wirklich zu offenbaren” (162). Ungeachtet des suggestiven Titels verbieten sich dem Gedicht folglich konkrete Hinweise auf Beschaffenheit und Funktion des Begriffspaares “Geheimes Deutschland” und “Neues Reich.”

Ludwig Lehnens komparatistisch ausgerichteter Beitrag (164–188) weist anhand mehrerer Gedichte nach, dass das “Mallarmé-Bildungs- und Urerlebnis” (168), welches dem jungen George erstmals 1889 bei den legendären Dichtertreffen in der Pariser Wohnung Mallarmés zuteil wurde, entgegen germanistischer Lehrmeinung nicht mit dem unverkennbar symbolistischen Frühwerk erlischt, sondern sein Werk bis zu Das Neue Reich prägt. So formuliert George dort implizit von neuem die zentralen [End Page 443...

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