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Reviewed by:
  • Auswandern in die Moderne: Tradition und Innovation in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre
  • Constanze Breuer
Günter Saße, Auswandern in die Moderne: Tradition und Innovation in Goethes RomanWilhelm Meisters Wanderjahre. Berlin/New York: de Gruyter 2010. 284 S.

Das Thema des vorliegenden Buches ist die Behandlung der sich seit dem 18. Jahrhundert anbahnenden gesellschaftlichen Modernisierung in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1. Fassung 1821, 2. Fassung 1829), besser gesagt: wie die verschiedenen Übergangsmöglichkeiten von der traditionalen zur modernen Gesellschaft im Roman gestaltet werden. Das Thema ist nicht neu, denn u.a. mit der Studie von Richard Meier (Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken “Wilhelm Meisters Wanderjahre” und “Faust II,” Freiburg im Breisgau, 2002) wurde bereits ein wichtiger Beitrag zur Erschließung des Romans aus sozialhistorischer Hinsicht geleistet. Saße fügt der Forschungslandschaft nun eine Studie hinzu, die einen literaturwissenschaftlichen Ansatz mit einem sozialhistorischen kombinieren will, um das “Wechselspiel von roman-immanenter Geschichtsanalyse und geschichtsbezogener Romananalyse inter-pretatorisch zu erfassen” (22).

Die Studie ist zusammengesetzt aus Einzelstudien, welche die vielfältigen Transformationsprozesse nachvollziehen: etwa von der “Bildung” zur “Ausbildung” in der Pädagogischen Provinz; oder die Auswirkungen der Modernisierung auf den “Menschen” Wilhelm, der sich seiner Sehnsüchte entledigt, um sich als Wundarzt einer gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit zuzuwenden. Das Interessante an dem Roman ist—das wird an der Studie deutlich—, dass Modernisierung im Menschen selbst (auch wider dessen Willen) stattfindet und nicht nur am technischen Fortschritt bemessen werden kann. Dafür steht vor allem die Joseph-Episode, der das zweite Kapitel “Joseph der Zweite: Inszenierte Tradition als Zuflucht vor der Moderne” gewidmet ist. Da sich in dem von Joseph bewohnten Tal “noch fast keine Spuren des Modernisierungsprozesses finden” (30) lassen, wurde die Episode in der Forschung als Darstellung einer vormodernen Idylle betrachtet. Saße argumentiert nun, dass auch ohne Maschinen und Kapitalismus die Moderne in dem Tal angekommen ist. Denn gerade die Entscheidung Josephs, den “religiösen Traditionsverlust” mittels einer “ästhetischen Traditionsbewahrung” (36) auszugleichen, ist modern, wenn auch in der Negation. Zu überlegen wäre nun, ob es überhaupt Figuren gibt, die der Modernisierung entgehen. Makarie steht z.B. nach Saße für ein “holistisches Weltbild als Gegenentwurf zu einer Moderne” (154) ein. Doch sind nicht solche Illusionen kosmischer Ganzheit bereits ein Zeichen der Moderne? Gerade dass Saße Makarie unzeitgemäß als “Psycho-und Sozialtherapeutin” (154) bezeichnen kann, scheint auf Brüche in der Figur hinzuweisen, die die Moderne durchscheinen lassen.

Trotz möglicher Kritik in solchen Details, ist die Arbeit in literaturwissenschaftlicher Hinsicht sehr gelungen. Saße hat ein Gespür für die beeindruckend moderne Vielstimmigkeit wie Vielschichtigkeit des Textes und sieht bewusst davon ab, diese zu reduzieren—sei es auf die Stimme oder Ebene des Autors—, wie dies in der von ihm kritisierten Forschung nicht selten der Fall ist. Konsequent rekonstruiert er die zahlreichen subtilen figurenperspektivischen und medialen Brechungen und insistiert überzeugend in der Deutungsarbeit auf ihnen.

Eine grundsätzliche Schwäche offenbart die Studie allerdings in Hinblick auf die angestrebte Vermittlung von literaturwissenschaftichem und sozialhistorischem Ansatz. Mit dem Rückgriff auf Luhmanns Konzept der funktionalen Differenzierung stößt Saße die Tür zu einem vielversprechenden Forschungsfeld [End Page 278] auf. Er will den in den Wanderjahren gestalteten Übergangsprozess von der traditionalen zur modernen Gesellschaft mit Luhmann als Übergang von einer stratifikatorischen zu einer funktional differenzierten Gesellschaft begreifen (8). Dagegen ist nichts einzuwenden, man könnte hier sogar noch ergänzen, ob es bei Goethe vielleicht weniger um den Übergang im Allgemeinen geht, sondern genauer um die Unvermeidlichkeit des Übergangs. Die Modernisierung der Gesellschaft setzt nach Luhmann bereits seit dem Mittelalter in Europa ein, ein Prozess, der im 18. Jahrhundert dann irreversibel wird und sukzessive die gesamte europäische Gesellschaft in unterschiedlich radikaler Weise erfasst. Es handelt sich hierbei allerdings um Prozesse, die Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern. Man kann daher keinen punktuellen Umschlag im Ganzen konstruieren, wie es in der Studie geschieht: “Denn wenn an die Stelle der geburtsständischen Ordnung, die den Einzelnen in überkommene Verhaltensweisen, Glaubensgrundsätze und Werthaltungen einfügt und so zum Teil einer kollektiven Identität macht, die moderne Gesellschaft mit ihrer funktionalen Differenzierung tritt, dann bleibt das nicht ohne Folgen für...

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