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  • Sprachliche Spur der Moderne. In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern
  • Stefan Elit
Sprachliche Spur der Moderne. In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern. Von Helmut Henne. Berlin: de Gruyter, 2010. 151 Seiten + 58 s/w Abbildungen. €39,95.

Die Literatur der Moderne um 1900 und zumal die Lyrik der Zeit ist als besonders sprachorientiert und -reflexiv bekannt. Was liegt da näher, als dass sich ein Sprachwissenschaftler Gedichten zentraler Vertreter gerade dieser Epoche zuwendet und die übliche literaturwissenschaftliche Werkanalyse um linguistische Perspektiven ergänzt? Genau eine solche naheliegende, aber selten erreichte Interdisziplinarität hat sich nun der emeritierte Braunschweiger Linguist Helmut Henne in seiner kleineren, gut lesbaren Monographie Sprachliche Spur der Moderne schon im Titel erkennbar zum Ziel gesetzt. Mit seiner öfters sehr grundsätzlichen und immer verständlichen, wenn auch bisweilen etwas bedächtig wirkenden Darstellung wendet er sich dabei auch einem breiteren gebildeten Publikum zu. Die gut philologische und aktuelle Forschung einbeziehende Herangehensweise macht die Arbeit ebenso für die literaturwissenschaftliche Diskussion attraktiv. [End Page 672]

Henne setzt ein mit einer kurzen "Hinführung" (1f.), die den zeitgenössischen Begriff der Moderne anhand eines provokativen Gedichts von Arno Holz schlaglichtartig erhellt und an die großen gesellschaftlichen Umwälzungen erinnert, die Künstler um 1890 zum Bruch mit literarischen Traditionen und zur ästheti(zisti)schen Neupositionierung führten. Zentrale Signaturen dieser sprachorientierten Wende werden im kurzen Kapitel 2 (Titel: "Zur Lage") ausgehend von Nietzsche als dem notorischen "Agent provocateur im späten 19. Jahrhundert" (3) in Erinnerung gerufen. Die Kapitelteile "Über Wahrheit und Kunst" (3), "(Post)naturalismus" [!] (4), "Symbolismus und Ästhetizismus" (5) sowie "Sprachskepsis und Sprachkritik" (6) sprechen hier für sich. Die Teile führen außerdem ausblickartig die fünf "Musterautoren" ein, denen sich Henne dann jeweils in einem Großkapitel widmet. Zur Entschuldigung dafür, dass gerade Hugo von Hofmannsthal kein eigenes Kapitel erhält, verweist Henne vorab auf die erst jüngst vorgelegte Dissertation seines Schülers Tobias Heinz (Hofmannsthals Sprachgeschichte. Linguistisch-literarische Studien zur lyrischen Stimme, Tübingen 2009). Das ist honorig, führt aber dazu, dass im Folgenden eine offensichtlich unerlässliche Referenzgröße nicht die nötige Eigenpräsenz hat. Ein weiteres Kurzkapitel ("3. Literarisch-linguistische Interpretation") bereitet methodisch auf die eigentlichen Analysekapitel vor. Neben sehr grundsätzlichen Reflexionen zu Grenzen und Möglichkeiten der Interpretation erläutert Henne hier, was er unter einer dezidiert linguistischen Komponente seines Herangehens versteht. Der Einbezug der basalen sprachwissenschaftlichen Analyse-Ebenen (also Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik) erscheint ihm gerade für Lyrik um 1900 und zumal für poetologische Texte unerlässlich; als wichtiges Instrumentarium versteht er darüber hinaus die Grapheologie, die der Analyse bedeutungsvoller historischer Gestaltungen der Gedichte vor allem im Druck dienen kann (10f.).

Die weiteren Kapitel widmen sich in exemplarischer Absicht einzelnen Gattungsvertretern, wobei die Reihung entsprechend dem Untertitel der Arbeit vom Ältesten und Bedeutendsten bis zum Jüngsten und zugleich in gewisser Weise 'Leichtesten' führt. Das interne Strukturprinzip dieser Kapitel ist ebenfalls weitgehend chronologisch, aber in systematisierender Absicht. Verfolgt wird jeweils die Werkentwicklung bis etwa zur Jahrhundertwende, um an ihr den individuellen Weg des Autors in 'seine' Form von literatursprachlicher Moderne aufzuzeigen. Da hier mehrfach weniger bekannte Frühwerke herangezogen werden, ist dieses Vorgehen zumindest für einen weiteren Leserkreis schon an sich reizvoll. Die Kapiteltitel geben dabei bereits thesenhaft einen Hinweis auf den für den einzelnen Autor postulierten Moderne-Fokus.

Bei Friedrich Nietzsche geht es entsprechend um "Sprache als Kunst" (Kapitel 4) im Sinne der bekannten empiriokritizistischen Erkenntnisbeschränkung sowie zugleich im Sinne der Selbstermächtigung des 'Dichters' nach Verabschiedung eines objektiven Wahrheitsanspruchs. Nach einer Skizze von Nietzsches Postulaten für eine "Kunst der Moderne: zerschlagen, durcheinanderwerfen, ironisch wieder zusammensetzen, Fremdes paaren[ ], Nächstes trennen[ ]" (16) sucht Henne allerdings zunächst nicht entsprechende Lyrikzeugnisse von Nietzsche selbst auf, sondern 'springt' zu Benns "Kleiner Aster," in der er die genannten Elemente exemplarisch wirken sieht (16f.). Die sodann vorgestellte Entwicklungsreihe für Nietzsches eigenes lyrisches Werk führt insbesondere zu einer paradigmatischen Analyse des Dionysos-Dithyrambus "Nur Narr! Nur [End Page 673] Dichter!," der die typisch moderne Beschränkung wie Ermächtigung der literarischen Sprache bzw. des Künstlers überzeugend...

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