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  • Medialisierungen des Unsichtbaren um 1900
  • Ralf Simon
Medialisierungen des Unsichtbaren um 1900. Herausgegeben von Susanne Scholz und Julika Griem. München: Fink, 2010. 225 Seiten. €24,90.

Um 1900 wurden in der Epistemologie der westlichen Welt die Relationen des Sichtbaren zum Unsichtbaren neu bestimmt. Nicht nur die Fotografi e hat in ihren verschiedenen Ausprägungen den Bereich dessen, was man sehen kann, erweitert. Phänomene wie Röntgenstrahlen, molekulare und elektrodynamische Prozesse sowie bakteriologische Erkenntnisse trugen um 1900 dazu bei, eine Welt jenseits der direkten menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit manifest werden zu lassen. Es zeigte sich, dass im Bereich des anthropologisch Nichtwahrnehmbaren gleichwohl äußerst wirkungsmächtige Prozesse vorhanden sind, deren Sichtbarmachung und Messung die verschiedenen Diskurse um 1900 beschäftigte. Der vorliegende Sammelband, der auf eine Frankfurter Tagung Anfang 2008 zurückgeht, widmet sich der Aufarbeitung dieser komplexen historischen Gemengelage, wobei insbesondere die Frage nach den medientheoretischen Implikationen der Sichtbarmachung des Unsichtbaren im Vordergrund steht. Die durchgehend auf einem sehr hohen Niveau stehenden Beiträge fi nden sich in drei Abteilungen gegliedert: Zunächst ist von der Fotografi e die Rede, welche um 1900 offenkundig eine paradigmatische Funktion innehatte. Die zweite Abteilung umfasst Beiträge, die sich den verschiedenen Formen des Kleinen und Unsichtbaren widmen, so zum Beispiel dem Giftdiskurs, der kriminalistisch eingesetzten Fotografi e und den Fragen, die um den Äther, die strahlende Materie und um molekulare wie elektrodynamische Prozesse kreisen. Die dritte Gruppe der Aufsätze stammt von Literaturwissen-schaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern, die die Literatur als Refl exionsform für die Problemmasse der Medialisierung des Unsichtbaren zu verstehen versuchen.

Der erste Beitrag von Peter Geimer entwickelt die für die Theorie der Fotografi e grundlegende Bestimmung, dass die Visualisierung des Unsichtbaren keine einfache Übersetzung von etwas Vorhandenem in die Sichtbarkeit ist, sondern vielmehr als ein Prozess der Herstellung verstanden werden muss, in dem die Logik der Apparate und Techniken einen konstitutiven Anteil hat. Fakt und Artefakt geraten in ein offenes Feld der Oszillation, sie bereiten eine Szene der komplexen epistemologischen [End Page 460] Deutungsarbeit. Verena Kuni beschäftigt sich mit der Geisterfotografi e und entwickelt das grundsätzliche Dilemma, dass eine gelingende physikalische Dokumentation des Auftretens von Geistern paradoxerweise deren immateriellen, nämlich gespenstischen Status widerlegen würde, so dass hier die Visualisierung unmittelbar in den Gegensatz zu sich selbst tritt. Auch Bernd Stiegler trifft bei seinem Thema, der piktorialistischen Fotografi e, auf ein durchaus ähnliches Paradox. Der Piktorialismus versuchte durch Nachbearbeitung von Fotografi en die Tiefenschärfe der natürlichen Wahrnehmung in die Bilder einzuarbeiten, so dass zum Beispiel vor einem unscharfen Hintergrund ein scharfer Vordergrund zu sehen ist. Die Debatten, ob das Foto als Ikon, Index oder Symbol zu verstehen ist, kollabieren auf eigentümliche Weise angesichts dieser Praxis der fotografi schen Darstellung. Sebastian Scholz entwickelt den Gedanken, dass in der Mikrofotografi e des 19. Jahrhunderts eine Wissensproduktion zu beobachten ist, in der Medienfunktion und Wissensform in dem Moment intrinsisch gekoppelt sind, in dem erkannt wird, dass das Wissen von den technischen Dispositiven nicht von der Hervorbringung des Sichtbaren zu lösen ist. Falk Müller setzt sich mit den Theorien des Lichtäthers, im Verbund mit molekularen und elektrodynamischen Prozessen, auseinander und schreibt eine kleine Wissenschaftsgeschichte der Äthertheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Christine Karallus wählt für ihren Beitrag die kriminalistisch eingesetzte Fotografi e und kommt auch hier zu einem Paradox, nämlich zur Frage, warum gerade der Mikrofotografi e mit ihrer durchaus kontraevidenten Anschaulichkeit juristischer Beweischarakter zukommt. Das derart explorative Bild muss konstitutiv von Diskursen der Sachverständigen begleitet werden, so dass sich hier schon im historischen Feld eine Kombination von Bildproduktion, Hermeneutik und Anwendung beobachten lässt. Schließlich behandeln Bettina Wahrig und Heike Klippel Giftdarstellungen im Film: Da sich die minimale Menge des tödlichen Giftes ebenso wenig zeigen lässt, wie der unmittelbare biologisch-chemische Prozess der Vergiftung selbst, gehört das Gift offenkundig mit in die Epistemologie des Unsichtbaren, so dass folglich seine Darstellungsfunktionen Gegenstand einer kulturwis-senschaftlichen Analyse werden können. Im 19. Jahrhundert war es insbesondere die Mikrofotografi e, welche die zellbiologischen Prozesse der Vergiftung zum ersten Mal visualisieren konnte.

Die literaturwissenschaftlichen Beiträge des vorliegenden Bandes unterscheiden sich durchaus charakteristisch...

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