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Reviewed by:
  • Crash. Der Unfall der Moderne
  • Erhard Schütz
Crash. Der Unfall der Moderne. Von Claudia Lieb. Bielefeld: Aisthesis, 2009. 344 Seiten. €34,80.

Nicht zuletzt, weil sie von Walter Benjamin zitiert wurde, hat die folgende Bemerkung Baudelaires bis heute einen gewissen Bekanntheitsgrad behalten: “Eben überquerte ich eilig den Boulevard, und wie ich in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt, eine verkehrte Bewegung mache, löst sich die Aureole von meinem Haupt und fällt in den Schlamm des Asphalts. Ich hatte den Mut nicht, sie aufzuheben. Ich habe mir gesagt, daß es minder empfindlich ist, seine Insignien zu verlieren als sich die Knochen brechen zu lassen” (zit. n. Benjamin I, 2, 651). Nicht von dieser Art Unfall freilich handelt das Buch von Claudia Lieb, sondern eher davon, wie in der Folgezeit die Aureole sich gewissermaßen um den [End Page 326] Unfall selbst legte, wie er—so die ebenso weit gefasste wie vorhersehbar allgemeine These bereits im Untertitel—zum “Unfall der Moderne” wurde. Oder in einem zwar aktuelleren, aber nicht perfekt geglückten Bild: “Der Unfall stellt die heimliche Tretmine dar, den unheimlichen Sprengsatz, der im Untergrund der Technikgeschichte lauert und den Siegeszug der industrialisierten Moderne hintertreibt” (13).

Nun sind weder Unfall noch Crash oder Havarie zunächst ausschließlich aufs Automobil engführbar, wie bereits das Titelbild signalisiert und die Arbeit es dann im Folgenden ohne viel Federlesens tut. Im Gegenteil: Haushaltsunfälle sind wesentlich häufiger, aber vielleicht weil sie so häufig und im privaten Inneren vorkommen, vielleicht auch, weil Frauen allermeist ihre zwangsläufigen Protagonisten sind, bei weitem nicht so spektakulär. Blieben Eisenbahnunfälle, die neben Schiffsunglücken die Chance hatten, sich vor denen mit Autos im allgemeinen Bewusstsein festzusetzen—auf beide geht Claudia Lieb en passant aber äußerst kenntnisreich ein—, erst recht jedoch Flugzeugunfälle, Abstürze zumal, die ja fast zeitgleich und wesentlich sensationeller als die schnell zahlreicher werdenden der Automobile auftraten. Wiewohl sie eine starke komparative Konturierung erlaubt hätten, hat Claudia Lieb in ihrer Darstellung auf die Auseinandersetzung mit ihnen verzichtet. Ebenso, dies nun angesichts des Materials nur allzu verständlich, auf einschlägige Filme. Stattdessen will sie, was seit geraumer Zeit diskurs-und wissensgeschichtlich orientierte Arbeiten wollen, nämlich verschiedene Diskurse zu einem diskursiven Ereignis oder Feld bündeln, hier eben jene um den Unfall mit Autos sich zentrierenden Diskurse—Justiz, Assekuranz, Medizin, Psychologie und Psychoanalyse zumal. Und sie will diese in Beziehung setzen mit dem, was die Literatur aus dem Unfall und in ihren Unfällen macht.

Dazu hat Lieb eine starke These: Während die vorgenannten Disziplinen alles daran setzten, den Unfall zu eskamotieren, zu verharmlosen oder wegzuerklären, mithin im Sinne Jürgen Links zu ‘normalisieren,’ mache die Literatur den Autounfall zu ihrem bevorzugten Thema “und räumt ihm poetologische Relevanz ein. In Zeiten literarischer Selbstreflexion wird Literatur zum Autounfall, von dem sie erzählt.” Literatur werde so zum “Gegendiskurs” (im Sinne Michel Foucaults), in dem das gewaltsame Ereignis, “das nicht sein soll, [ . . . ] zum Paradefall einer Literatur aufsteigt, die selbst damit kokettiert, sinnlos, anormal und unverständlich zu sein” (14). Das hört sich zunächst überzeugend an, ist aber für die üblichen Paradeautoren von Otto Julius Bierbaum über Hermann Hesse bis Robert Musil nicht gar so zwingend. Und die klugen und einlässlichen Analysen, die Claudia Lieb ihnen und vielen anderen widmen wird, holen Erstaunliches aus den Texten heraus, zum Unfall wie zu den Texten, weniger doch aber zur behaupteten Selbstpositionierung als Literatur im Sinnlos-Unverständlichen. Da schon eher im Subversiven—besonders eindrücklich hätte sich das an Bertolt Brechts Mitwirkung am Illustrierten-Artikel “Ein lehrreicher Auto-Unfall des Dichters Brecht” (Uhu, Jg. 6 [1929], H.2, 62–65) zeigen lassen: Brecht hatte, einem rasenden Überholer ausweichend, seinen Steyr-Wagen kontrolliert gegen einen Baum gesetzt, was den Wagen ordentlich beschädigte, ihn aber unverletzt bleiben ließ. Ein Lobgedicht auf den Steyr-Wagen hatte ihm selbigen eingebracht. Nun wurde der Unfall also nachgestellt und in Bild und Text dokumentiert. Der erste Crash-Text der Literatur vermutlich und in gewisser Weise zugleich ein Vorläufer zu Brechts Kapitalismus-Experiment im “Dreigroschenproze...

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