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  • Der Humanitätsgedanke in der Literatur der deutschen Spätaufklärung
  • Harro Müller-Michaels
Der Humanitätsgedanke in der Literatur der deutschen Spätaufklärung. Von Thomas Berger. Heidelberg: Winter, 2008. 436 Seiten. €73,00.

Jede Generation tut gut daran, sich die zentralen Ideen menschlicher Verständigung neu zu erarbeiten. Dazu zählen Vorstellungen von Freiheit, Wahrheit, Bildung—und eben auch Humanität. Um es vorweg zu sagen: Thomas Berger ist es auf vorbildliche Weise gelungen, Humanitätsgedanken der europäischen Aufklärung präzise zu erläutern, die Diskursangebote der ausgewählten Werke für ihre Zeit darzustellen und deren Geltung für die Debatten der Gegenwart zu prüfen. Das geschieht auf eine Weise, die sich zum einen um genaue und differenzierte Begriffsbestimmungen bemüht, zum anderen die changierenden Erscheinungen der Idee in den Handlungen der besprochenen Werke aufspürt, indem sie nahe an den Texten interpretiert werden. Die dadurch gewonnene Plausibilität macht die Analysen nicht nur anregend für weitere Forschungen, sondern [End Page 115] auch für den Hochschulunterricht—gerade an den Stellen, die nach Ergänzungen fragen oder zu Widerspruch herausfordern.

Grob gesprochen verfolgt die umfangreiche Studie drei ganz unterschiedliche Ziele. Zunächst wird—gegen den Trend in den Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte, Begriff und Sache der Humanität ausschließlich mit Skepsis zu betrachten—der Versuch unternommen, diese Idee als Schlüssel für das Verständnis der kanonischen Werke sowie der Epoche um 1800 zurückzugewinnen. Das geschieht weniger durch historisierende Begriffsbestimmungen als vielmehr durch genaue Textanalyse, die die Deutungsperspektive der Humanitätskonzepte zugleich erweitert und bündelt. Gegen manche (zugegeben: manchmal erhellende) Einseitigkeiten in neueren Interpretationen wird bei dem Verfahren die Komplexität der Werke erhalten. Schließlich macht die Dissertation ein Angebot an die Forschung zur Literatur im Zeitalter von Aufklärung und klassisch-romantischer Kunstperiode, erneut über die leitenden Ideen der europäischen Aufklärung und deren Fortgeltung in späteren Epochen nachzudenken und zu streiten, wie es Moses Mendelssohn mit seiner Schrift "Was heißt aufklären?" begonnen hatte.

Der Aufbau der Arbeit folgt im wesentlichen der Chronologie der Erscheinungsdaten der ausgewählten Werke. Die Interpretationen beginnen mit Lessings Erziehungsschriften Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer (1778) sowie Die Erziehung des Menschengeschlechts, werden fortgesetzt mit seinem Drama Nathan der Weise sowie Goethes Iphigenie auf Tauris. In das Zentrum der insgesamt neun Werkanalysen treten Herders Briefe zu Beförderung der Humanität, gefolgt von den Untersuchungen zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen sowie zu seinem späteren Drama Wilhelm Tell. Den Abschluss bilden neue Deutungen zu Goethes Meister-Romanen und Wilhelm von Humboldts Schriften bis 1810. Exkurse zu Lessing, Wieland und Schillers Don Karlos vervollständigen das breite Spektrum des ambitionierten Unternehmens.

Die Untersuchungen sind nun keineswegs additiv angelegt, sondern suchen nach einem gedanklichen Aufbau, durch den einerseits Befunde erhärtet, andererseits neue Aspekte zur genaueren Bestimmung von Humanität hinzugewonnen werden, die insgesamt im Schlusskapitel in zehn Punkten zusammengefasst sind. Lessings Erziehungsschriften lassen schon grundlegende Elemente von Bestimmungen für ein angemessenes Verständnis von Humanität im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution erkennen: Autonomie des Subjekts, Selbstdenken, Entfaltung von Vernunft und Empfindsamkeit, gemeinschaftliches Wirken der Menschen unter Anerkennung der Würde des Anderen. Vor allem der Mut, die Lösung auch schwerster Konflikte ausschließlich als menschliche Angelegenheit zu verstehen und sie gemeinsam mit den Mitmenschen ins Werk zu setzen, schafft Menschlichkeit, wie sich an den dramatischen Lebensgeschichten Nathans und Iphigenies belegen lässt. Individuum und Gesellschaft befördern ihre Entwicklung gegenseitig.

Herders Überlegungen führen einen Schritt weiter, indem er Humanität einerseits als notwendig unerreichbares Ideal bestimmt, andererseits als vorläufig erreichten Status in einer fortschreitenden Entwicklung aller Kräfte zu höheren Stufen. So können auch Individuen und Gesellschaften, die vom Ziel noch mehr oder minder weit entfernt sind, Humanität durch eine Ausbildung eines Gleichgewichts ihrer Kräfte gewinnen. Dass zu diesen Kräften auch der Wille gehört, der die Einsicht in aktive Bewährung umsetzt, wird zwar angedeutet (so etwa im Zusammenhang mit Lessings Schriften, [End Page 116] 77 oder 104), aber nicht systematisch gefasst. Wie eng Humanität und Erziehung...

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