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  • Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur
  • Norbert Bachleitner
Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur. Herausgegeben von Elke Brüns. München: Fink, 2008. 231 Seiten + 2 s/w Abbildungen. €29,90.

Die Herausgeberin fordert in ihrer Einleitung einen social turn, der das Soziale, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten aus dem Blick der Literaturwissenschaft geraten ist, als Bezugssystem der Literatur reetabliert. Diese Forderung verdient volle Unterstützung; zwar ist das Interesse an literatursoziologischen Fragen nicht verschwunden, man denke nur an die intensive Bourdieu-Rezeption in der Literaturwissenschaft, aber die "Wende" von 1989/90 hat andere wissenschaftliche Paradigmen gestärkt. Eine erneute konzentrierte Beschäftigung mit den Verbindungen zwischen Sozialem und Literarischem ist notwendig, denn es bestehen wenig Zweifel, dass soziale Fragen im weiteren Sinn im Mittelpunkt der erzählenden und dramatischen Literatur stehen.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes umkreisen die Armut, die aus der Literatur und der Ästhetik über weite Strecken der Geschichte als "hässlicher" Gegenstand verbannt war. In diesem Punkt trifft sich die Literatur mit der Ökonomie, die Armut ebenfalls aus ihrem Bereich ausschließt, zumindest aber als zu überwindenden Zustand betrachtet. Die Leitfrage des Bandes lautet: Wie gewinnt Armut literarisch Gestalt? Diese denkbar offen formulierte Vorgabe resultiert, in Übereinstimmung mit dem Plural "Ökonomien" im Titel, folgerichtig in stark voneinander divergierenden Zugängen. Auch der Umstand, dass sich der zeitliche Bogen von der Antike bis zur Gegenwart spannt, sorgt nicht gerade für Homogenität. Aus Raumgründen greifen wir hier nur die Beiträge mit Bezug auf die Literatur des 19. Jahrhunderts heraus, das sind fünf der insgesamt zwölf Aufsätze.

Die Herausgeberin selbst interpretiert K.P. Moritz' Anton Reiser als Armuts-literatur, die materiellen Mangel und die daraus folgende Störung des seelischen Haushalts bzw. Flucht in Idealwelten thematisiert. Die psychischen Auswirkungen der Armut (Aggression) werden ebenso behandelt wie ihre ästhetische Wirkung auf den Betrachter/Leser (Genuss). Wurde Armut lange als selbst verschuldet betrachtet, so weist Moritz auf ihre Kontingenz hin, vergleicht sie mit angeborener Taubstummheit, und sieht im Schreiben darüber den Versuch der Kompensation und Sinnstiftung. Proto-sozialistische Aussagen enthalten seine Erörterungen über "listige" Menschen, die dem Zufall nachhelfen und den Mitmenschen das ihnen Zustehende vorenthalten. Insofern ist Anton Reiser auch ein frühes Beispiel engagierter Literatur, die den "Tätigkeitstrieb" zu aktivieren sucht. Neben solchen thematischen Erörterungen sind die Versuche, den Armutsbegriff auf den Stil anzuwenden, bemerkenswert; laut Brüns schreibt Moritz einen "armen" Stil. Hier wäre zu fragen, inwiefern diese Beobachtungen noch mit der rhetorischen Stillehre zu vereinbaren und zu erklären sind und inwiefern der Stil mit der konstatierten Wirkungsabsicht zusammen hängt. [End Page 104]

Sprunghaft-assoziativ geht Justus Fetscher an das Thema Goethe und die Ökonomie heran. Als Finanzverwalter am Weimarer Hof war es Goethes Aufgabe, für Sparsamkeit zu sorgen: Er las ökonomische Literatur (Möser, Smith) und schloss sich, im Gegensatz zu seinem Schwager Schlosser, der herrschenden physiokratischen Lehre an. Schlosser betrachtete in seinen Xenocrates-Dialogen das Geld und seine Zirkulation als Auslöser von Imagination und in Folge als Zerstörer der Ständegesellschaft. Die frühe klassizistische Ästhetik kontrastierte denkbar stark mit der realen Armut, die Identifikation mit den Verdammten, etwa in Iphigenie, hat daher etwas Paradoxes. Goethes Italienreise brachte eine neue Ästhetik mit sich, insbesondere Ironie, in der Fetscher Analogien zur Doppelung Armut-Reichtum erkennt. Goethe trat jedenfalls fortan als schriftstellerischer Entrepreneur auf, wählte ökonomisch denkend und wertebewusst Stoffe mit hohem Prestige, verriet damit aber, so Novalis, die Poesie. Wilhelm Meister kann geradezu als kaufmännische Literatur gelesen werden, als narrative Lebensentwurfsbilanz, in der der Autor mit dem Leben seiner Figuren "handelt" und sie dem Publikum feilbietet; diese Wendung, die von direkten Interferenzen und Analogien zwischen Wirtschaftstheorie und Erzählökonomie ausgeht und wortspielerisch operiert, ist charakteristisch für Fetschers Vorgangsweise und Stil.

Näher am Thema bleibt Tilman Fischer, der die Darstellung der Armut in deutschen Reiseberichten aus England behandelt. Obwohl der Reisebericht per Definition Authentizität verspricht, verwenden die Reiseschriftsteller zum Teil bereits vorhandene Pauperismus-Bilder und Motive, die spätestens in den vierziger Jahren topisch werden. Ulrike Tanzer legt zunächst die antiken Wurzeln einer...

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