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  • Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit—Audiovisualität—Musik
  • Manuel Köppen
Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit—Audiovisualität—Musik. Herausgegeben von Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier und Timo Skrandies. Bielefeld: transcript, 2009. 280 Seiten. €27,80.

"Filmnarratologie" hieß die Tagung, der dieser Band sein Entstehen verdankt. Und von filmspezifischen Fragen der Narratologie in den verschiedensten Facetten handeln auch die vierzehn hier versammelten Beiträge, allerdings mit einer deutlichen Schwerpunktsetzung. Mehr als die Hälfte der Beiträge widmet sich der Frage der Unzuverlässigkeit und der Übertragbarkeit dieser zuerst im Kontext literarischer Erzählforschung beschriebenen Kategorie auf Formen audiovisueller Narration. Dass Unzuverlässigkeit verstärkt in den Fokus filmwissenschaftlicher Überlegungen rückte, verdankt sich dem Umstand, dass sich seit Ende der 1990er Jahre eine ganze Reihe prominenter und vieldiskutierter Filme durch dieses Merkmal auszeichneten. The Sixth Sense (1999), Fight Club (1999), Memento (2001), The Others (2001), A Beautiful Mind (2001), Vanilla Sky (2001) sind nur einige dieser Filme, in denen die Fiktionsebenen unsicher wurden: ein Verfahren, für das David Lynchs Filme Lost Highway (1996) und Mulholland Drive (2001) Maßstäbe gesetzt hatten.

Das Erkenntnisinteresse fast aller Autoren in diesem Themenfeld gilt der Spezifik unzuverlässigen Erzählens im Film. Ist der Begriff der Unzuverlässigkeit, der in der literarischen Erzählforschung zumeist an die Instanz einer Erzählerfigur geknüpft wird, überhaupt auf den Film zu übertragen? Als Mittlerinstanz mag es im Film zwar einen cinematic narrator geben, der jedoch ist ein völlig impersonales Konstrukt in ungefährer Annäherung an einen extradiegetischen Erzähler und hat mit dem homo-diegetischen Erzähler überhaupt nichts zu tun, der in der literarischen Erzählforschung zumeist vorausgesetzt wird, um jene Unzuverlässigkeit zu stiften. So reflektiert Michael Scheffel eingangs noch einmal grundsätzlich die Möglichkeiten, Kategorien literarischer Narratologie auf den Film zu übertragen, um am Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle, Schnitzlers Drehbuchentwurf und Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999) Aspekte der Mediendifferenz zu betonen. Allerdings ist der Band selbst ein Musterbeispiel dafür, wie sehr sich die an der Literatur gewonnenen Kategorien auch in der Filmbeschreibung durchzusetzen scheinen. Gelegentlich taucht noch einmal Stanzels Begriff der "Erzählsituationen" auf oder es wird mit Petersen zwischen "erzählendem" und "erzähltem Ich" differenziert, ansonsten ist Gérard Genettes [End Page 432] Terminologie omnipräsent. Womit die Mediendifferenz nicht getilgt ist, und ihr sind die Beiträger auf der Spur.

Wenn Robert Vogt danach fragt, ob ein zuverlässiger Erzähler unzuverlässig erzählen kann, Sandra Poppe das Spiel mit Subjektivität, Identität und Realität in jenen Filmen untersucht, bei denen die Wahrnehmung psychisch gestörter Protagonisten im Zentrum steht, oder Gudrun Heidemann Dostojewskis Erzählung Der Doppelgänger mit David Finchers Fight Club vergleicht, geht es immer auch um die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie in Literatur und Film Unzuverlässigkeit erzeugt werden kann. In beiden Medien, so Vogts Argument, gebe es die Unzuverlässigkeit auch des scheinbar zuverlässigen, impersonal heterodiegetischen Erzählers. Es sei daher sinnvoller, Formen der Unzuverlässigkeit zu unterscheiden: die einer ironischen Erzählstrategie, bei der eine Erzählerfigur charakterisiert wird, wie etwa durch das voice over in Forrest Gump (1993); oder das Vorenthalten von Informationen im narrativen Diskurs, das gleichermaßen etwa in Ambrose Bierces Erzählung An Occurrence at Owl Creek Bridge begegnet wie in Finchers Fight Club. Die Differenz zwischen Erzähler und Fokalisierungsinstanz, die auch Vogt anspricht, wird bei Poppe zum zentralen Argument. Bei all den Filmen, in denen das Erleben einer psychisch deformierten Wahrnehmung als scheinbar objektive Weltsicht vorgeführt wird, handele es sich um nicht markierte interne Fokalisierungen, die sich am Ende als solche zu erkennen geben oder wie in Lynchs Filmen eine Welt konstituieren, der jedes verlässliche Korrektiv fehlt. Eine genuine Leistung des Filmischen, denn anders als der cinematic narrator gebe sich der Erzähler eines literarischen Textes in der Regel recht schnell als unzuverlässig zu erkennen. Worauf Heidemann bei ihrem Vergleich zwischen Dostojewskis Erzählung und Finchers Film neben erstaunlichen Parallelen nicht nur die Mediendifferenz, sondern auch die Medienentwicklung betont. Was für Dostojewskis Protagonisten der Spiegel war, ist für Finchers zwiegespaltenen Helden, mit Benjamin gesprochen, der Film...

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