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Dabeigewesen: Tagebuchnotizen vom Winter 1989/90 Gisela E. Bahr 19.Dezember 1989 Ankunft in Berlin, mit Taxi zu Kusine Erika am Tempelhofer Damm. Früher habe ich oft bei ihr gewohnt, bin täglich zum Brecht-Archiv gefahren und habe abends auf ihrer Schreibmaschine meine handschriftlichen Notizen übertragen. Inzwischen ist sie alt und kränklich geworden, hat mich oft nicht aufnehmen können, aber dieses Jahr hatte sie mich speziell eingeladen. Die Wohnung ist zu groß und zu unbequem für sie, aber sie bewohnt sie seit sechzig Jahren, hat darin das Ende der Weimarer Republik erlebt, die Hitlerzeit, Krieg, Nachkriegszeit, die Mauer—und nun die Öffnung der Mauer. Kann sie es denn fassen, dieses unglaubliche Ereignis, das niemand in unserer Generation für möglich gehalten hat? Ist es nicht großartig, in einer historisch so bedeutenden Zeit zu leben? Ach, weißt du, sagte Erika, für mich ist das nichts mehr. Versteh mich nicht falsch, natürlich bin ich froh, daß die Mauer weg ist. Aber für uns hier in Berlin ist es unerträglich geworden, du wirst es selber sehen. Das Problem ist, daß die "Ossis" den Westteil der Stadt überschwemmen, täglich, stündlich. Arbeiten tun die anscheinend überhaupt nicht. Deshalb sind die Verkehrsmittel überfüllt und die Geschäfte auch. Sie kauft meistens im Billiggeschäft Aldi ein, aber die Ossis auch. Nun muß sie Schlange stehen, um überhaupt in das Geschäft hineinzukommen, und an der Kasse noch einmal, muß auf manche Ware verzichten, weil sie gerade ausgegangen ist. Im Osten sind sie das ja gewöhnt, meinte sie, denen macht das nichts aus. Also Umkehrung der Verhältnisse? Darauf war ich nicht vorbereitet. Aber das kann doch nicht alles sein, was die Maueröffnung gebracht hat. 20.Dezember 1989 Ein Regentag, gar nicht weihnachtlich. Trotzdem fuhr ich in die Stadt, ließ nur meine Filmkamera zuhause. Ich wollte Geld umtauschen und Einkäufe machen. Vor allem aber wollte ich sehen, was sich verändert hat. Berlin ist ja meine zweite Heimat. Während des Krieges habe ich hier studiert, Bombenangriffe erlebt, Trümmer beseitigt. Damals wurden die Hilfsbereitschaft der Berliner und ihr sprichwörtlicher Humor zur Lebenshilfe für mich und machten mich quasi zur Berlinerin. Die Eroberung der Stadt durch die Russen fand ohne mich statt, ich war nach Holstein geflüchtet. Ein Jahr später kam ich zurück in die geteilte Stadt, die zertrümmerte Stadt und schlug mich Women in German Yearbook 7 (1991) 152Tagebuchnotizen mühsam als Orchestergeigerin durch. Es war eine harte Zeit, denn es mangelte an allem—an Geld, Essen, Kleidung, Heizmaterial—und zugleich eine aufregende Zeit hier im Zentrum, wo die vier Besatzungsm ächte so dicht beieinander waren und die Hoffnung auf eine bessere Welt in der Luft lag. Die erste freie Wahl meines Lebens fiel in diese Zeit. Nie wieder habe ich dieses Grundrecht in solcher Hochstimmung ausgeübt wie damals. Als die Blockade kam, wohnte ich schon in Wiesbaden, und es vergingen fast zwei Jahrzehnte, bis ich Berlin wiedersah . Seit 1966 kam ich jedes Jahr und fühlte mich bald in beiden Teilen der Stadt wieder heimisch. Nach praktisch fünfzig Jahren Berlin-· geschichte dachte ich nicht, daß mich noch viel überraschen könnte. Was für ein Irrtum! So wie heute habe ich Berlin noch nie erlebt. Die Stadt platzte aus allen Nähten, als hätten sich Menschen und Fahrzeuge verdoppelt. Mitten in Lärm und Durcheinander das vertraute Tuckern der ostdeutschen Zweitaktautos. Alle Leute schienen von Einkaufsfieber gepackt, aber statt fröhlicher Vorweihnachtsstimmung spürte ich Hektik, Gereiztheit, sogar Feindseligkeit unter den Menschen, sah nur hin und wieder ein glückliches, ertwartungsvolles Kind. Ich wollte eigentlich noch Geschenke kaufen, ließ es dann. Ich hatte keine Lust mehr. Am Abend telefonierte ich lange mit Wally in Ostberlin. Bei ihr, meiner Wahlfamilie, will ich die Weihnachtstage verbringen. Schauspielerin an der Volksbühne, ist Wally seit mehr als zwanzig Jahren meine engste Freundin, Schwester, Auskunftsperson für DDR-Angelegenheiten . Sie behauptet, daß ich immer da war, wenn ihr Leben eine Wendung nahm, an den Höhepunkten, an den Tiefpunkten. Als ihr Sohn Matti zur Welt kam, bat sie mich, die Patenschaft zu...

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