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  • Visuelle Konjunktive. Überlegungen zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Die Amsel
  • Sabine Mainberger (bio)

I. (Dys)Funktionen und ‚Möglichkeitssinn‘ der Linie

Im Konjunktiv Konjunktivisches formulierend, heißt es in Musils Mann ohne Eigenschaften: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“1 Nehmen wir—in der Manier dieses versuchsweise vorgehenden Schreibens—einmal an, er ließe sich so definieren, und blenden wir die Möglichkeit der Unmöglichkeit dieser oder einer anderen Definition aus, dann müsste sich das mit zwei Negationen Gesagte auch positiv ausdrücken lassen. Etwas plumper gefasst, ginge es dann um die Fähigkeit, das, was nicht ist, genau so wichtig zu nehmen wie das, was ist. Einen derartigen Gedanken hatten, ohne den schönen Begriff eines neuen Sinnes oder Sinnesorgans dafür zu kennen, bereits um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert bildende Künstler: Sie behaupteten, das, was auf einem Bild, an einer Skulptur, an einem mit Möbeln bestückten Innenraum nicht da ist, sei genau so wichtig zu nehmen, wie das, was da ist: das weiße Blatt ebenso wie die schwarze Figur, der Raum um eine Plastik herum ebenso wie deren kompakte Erscheinung, die Hohlform zwischen den Tischbeinen ebenso wie deren kräftig-schlanke Gestalt usw. [End Page 602] Auch in der Literatur war man auf eine ähnliche Idee gekommen und hatte die weiße Seite auf gleiche Höhe mit Text und Schrift gehoben. Das Prinzip der komplementären Entsprechung von positiver und negativer Form hatten außerdem wissenschaftliche Disziplinen im Blick: Wahrnehmungsphysiologen und -psychologen untersuchten seit dem früheren neunzehnten Jahrhundert Phänomene der Inversion. Die Gestaltpsychologie sollte dann—ganz abgesehen von einem unterhaltsamen Spiel mit Drahtwürfeln vor dem Spiegel—jene Figuren populär machen, die sich bald nach vorn, bald nach hinten öffnen und unvermutet die Richtung wechseln. Nicht nur die Psychologen aber schätzten die seltsamen Doppelwesen. Gegen alle zoologischen Kenntnisse sollte die ‚Hasenente,‘ auch sie ein Geschöpf jener Zeit, eine ansehnliche Karriere in der Philosophie machen—aber freilich erst Jahrzehnte später. Um 1900 schienen indes einem Kunsthistoriker beim Vergleich zahlloser römischer Relikte Schmuckstücke, von denen man nicht wusste, wie man sie nehmen sollte—als erhabene oder als vertiefte Form, als Relief oder als Gravur—, und sogenannte reziproke Motive besonders bedeutsam: Was er daran markierte, war nicht nur die Signatur nachklassischer Perioden, sondern ein Wandel in der Geschichte der Wahrnehmung und das Prinzip autonomer Kunstentwicklung.

Übertragen auf alle möglichen Bereiche durchzieht der Gedanke—ganz abstrakt gesagt—von der Gleichwertigkeit dessen, was ist, und dessen, was nicht ist, Handlungen, Beschreibungen, Überlegungen des Musilschen Hauptwerks; er ist mit der Kenntnis und Einarbeitung der Gestaltpsychologie in den Roman verbunden, die Frage nach den Komplementärwerten und ihren Balancen—bis hin zu derjenigen von Mathematik und Mystik, Indikativischem und Konjunktivischem, Wirklichkeit und Möglichkeit, dem normalen und dem ‚anderem Zustand‘ usw.—geht aber nicht in diesem spezifischen und generell nicht in einem wissenschaftsgeschichtlichen Bezug auf. Diesseits eines im engeren Sinn gestalttheoretischen Diskurses findet sich jene Gleichwertigkeit auch schon im Törleß-Roman. Die Verwirrungen des Protagonisten sind immer wieder von dieser Art, und sie begegnen vielfach im räumlich-visuellen Register oder werden in dieses übersetzt. Vom Möglichkeitssinn ist darin nicht die Rede, obwohl Törleß an sich bemerkt, dass er offenbar einen, wenn auch noch nicht fertig entwickelten, Sinn mehr hat als die anderen.2 So scheint es doch [End Page 603] bereits ein Pendant zu jener besonderen Fähigkeit zu geben, und mit einer kleinen Verschiebung der Aufmerksamkeit lässt es sich genauer ausmachen: Der Möglichkeitssinn wirkt im Denken und Werten (‚Wichtig-Nehmen‘), und deren genuines Medium ist ohne Zweifel die Sprache. Aber findet nicht etwas der Art auch im Sehen und im Sichtbarmachen statt, mit welchen Mitteln es auch immer geschieht? Der Fähigkeit, das, was nicht ist, genauso zu denken wie das, was ist, läßt sich m.E. in der Welt der Anschauung allem voran das außerordentliche Leistungsvermögen der Linie zur Seite stellen. Sie...

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