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GÉZA VON MOLNÄR Goethes Studium der Kritik der Urteilskraft: Eine Zusammenstellung nach den Eintragungen in seinem Handexemplar "Wir TRENNEN UNS... von dem Bestreben, das unseren Vätern so wichtig war, Goethe und Kant in Übereinstimmung zu setzen...," meint Hans-Georg Gadamer in einem 1942 gehaltenen Vortrag,1 und diese Worte lassen sich in einem viel allgemeineren und epochaleren Sinn verstehen als dem, der ihnen in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zukam. Das Thema der geistigen Beziehungen zwischen Kant und Goethe ist kein sehr aktuelles mehr in der Fachliteratur, und wenn es doch hie und da anklingen sollte, muß es unter Berufung auf die Studien geschehen, in denen die Generation eben jener "Väter" die Grundlage dokumentierter Zeugnisse für die spätere Forschung zu sichern suchte. In erster Linie ist in dieser Hinsicht an Karl Vorländer zu denken, der die Ergebnisse seiner langjährigen Arbeit unter dem Titel Kant. Schiller. Goethe zusammenfassend veröffentlicht hat2; dieses Werk enthält auch die chronologische Übersicht Goethescher Bezugnahme auf Kant, aus der eindeutig hervorgeht, daß es sich um eine andauernde geistige Auseinandersetzung handelt, die überwiegend im Zeichen betonter Anerkennung steht und sich vom ersten gründlichen Studium der soeben, 1790, erschienenen Urteilskraft über die nächsten vier Jahrzehnte hin bis zum Todesjahr erstreckt. Nur wenig andere Menschen haben von Goethe ähnliche Beachtung empfangen, weshalb es mir angebracht scheint, ihr auch in der Goetheforschung aus heutiger Sicht wieder ein ebenbürtiges Maß von Interesse entgegenzubringen. Um bloße Übereinstimmung mit der Kantischen Philosophie war es Goethe bestimmt nicht gegangen, noch bemühen sich seine Interpreten ausschließlich 138 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA darum, eine solche nachzuweisen, doch wäre es ein Irrtum, deshalb annehmen zu wollen, Goethe habe sich lediglich die vielen Jahre hindurch in kritischer Distanzierung seiner denkerischen Eigenständigkeit versichert. Um intellektuelle Unterwerfung oder Unabhängigkeit geht es offensichtlich nicht—dazu hätte es kein halbes Menschenleben gebraucht—sondern eher um einen Dialog, weshalb der so lange aufrechterhaltene Kontakt mit der Denkweise Kants die beste Möglichkeit bietet, auch über die Gedankenwelt Goethes Aufschluß zu erhalten. In manchem, was Goethe diese Bekanntschaft brachte, hat er sich wiedererkannt, manches sich auf seine Weise angeeignet und wieder anderes unbeachtet gelassen oder gar verworfen. Es ist ein sehr komplizierter Prozeß, dessen Erforschung, trotz der verdienstvollen Beiträge Karl Vorländers und der zwanzig Jahre später veröffentlichten, umfassenderen Darstellung Gabriele Rabeis,3 noch erhebliche Lücken aufweist. Eine der offenbarsten betrifft Goethes Lektüre der Urteilskraft, die im Herbst und Winter 1790-1791 erfolgte4 und die sein erster ernsthafter Versuch war, durch das eingehende Studium dieser Philosophie sich mit ihr vertraut zu machen. Die Spuren dieser Tätigkeit sind heute noch in seinem Handexemplar zu finden und dürfen als äußerst verläßliche Anhaltspunkte betrachtet werden, nach denen sich über Einzelanalysen der angestrichenen Stellen und Randbemerkungen ein zusammenhängendes Schema herausbilden läßt, welches der denkerischen Einstellung ihres Urhebers entspricht. Eine solche durchgehende, auf diesen spezifischen Text eingeschränkte Untersuchung ist noch nicht vorgenommen worden und würde, meines Erachtens, einen sinnvollen Einblick in die theoretischen Ansätze einer Grundstruktur gewähren, nach der sich das Bild der Welt für Goethe auf philosophischer Ebene zu formen beginnt; daß dies einige Zeit vor der Zusammenarbeit mit Schiller geschieht, ist nicht ganz unwichtig, denn dadurch wird seinem fast sprichwörtlichen Einfluß, unter dem Goethes Verhältnis zu Kant gestanden haben soll, eine klar bestimmbare Grenze gesetzt. Die folgenden Seiten stellen den Versuch dar, Goethes Gedanken, wie sie sich am Text der dritten Kritik entwickeln, zu verfolgen und in ihrem Zusammenhang zu erläutern.5 Kants Ausführungen werden daher nur insofern kommentiert und berücksichtigt, als sie sich entweder unmittelbar auf die von Goethe vorgemerkten Stellen beziehen oder zu ihrer Erklärung benötigt werden. Im Vordergrund steht also das, was die Kritik der Urteilskraft Goethe zu sagen hat, wobei von der hier müßigen Frage abgesehen wird, ob er Kant wohl verstanden oder mißverstanden haben mag. Da die Auflage von 1790 nicht leicht zugänglich ist, und um es dem Leser dennoch zu ermöglichen, während der Diskussion auch eigenen Einblick in die Kritik zu nehmen, wird nach...

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