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JUDITH RICKER-ABDERHALDEN Muschg, Goethe und die bürgerliche Revolution: Die Aufgeregten von Goethe von Muschg "GERICHT ÜBER GOETHE!" "Muschg knöpfte sich Goethe vor!" "Ein Heldendenkmal wird gestürzt!" "Der Weise von Weimar durch die Brille Muschgs!" "Aus dem Kabinett ins Kabarett... Goethe als Witzblattfigur!"1 So empfindlich reagierten gewisse Kritiker auf einen Versuch des Schweizer Dramatikers Adolf Muschg, eine politische Satire auf Goethes wenig bekanntes Komödienfragment Die Aufgeregten (1793) zu schreiben. Da getraue sich tatsächlich "ein Schweizer Goethe-Spiel-Ausleger," gar noch "ein schriftstellernder Schweizer Deutschlehrer," einem unvollendeten Stück "eines unserer Klassiker" Beine zu machen.2 Muschg habe Goethes Komödienfragment nur bearbeitet, "um den Dichterfürsten und Fürstenknecht als leisetretenden Vertreter der alten Ordnung zu denunzieren."3 Es war wohl unvermeidlich, daß zu einer Zeit, wo Dramatiker und Dramaturgen suspekt gewordenen Klassikern durch Bearbeitungen neues Leben einzuflößen versuchten, auch Goethe und eines seiner Werke diesem Trend zum Opfer fallen mußten.4 Es ist Mode geworden, Werke älterer Autoren zu bearbeiten und den heutigen Verhältnissen anzupassen. Adolf Muschg hat das Unwahrscheinliche (und vielleicht auch Gefährliche) unternommen: Er hat sich ein Werk des Dichterfürsten Goethe vorgenommen und ihm "den autoritären Anspruch" genommen, "den ein Goethe-Werk zu erheben pflegt."5 Das Fragment, das Muschg zum Widerspruch reizte, dem er durch die Bearbeitung aber auch seinen Respekt bezeugen wollte, ist allerdings laut Muschg "nichts Berühmtes," sondern etwas, was sich "versteckt und von der bürgerlichen Literaturkunde, mit dem Hinweis auf ästhetische Unzulänglichkeit, gehorsam weiter versteckt wird."6 92 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA Ein Stück über ein Stück und dessen Autor fordert Zuschauer und Leser gleichsam auf, die beiden Werke zu vergleichen, zumal noch im Titel der Bearbeitung Autor und Titel der Vorlage namentlich erwähnt sind. Muschgs Stück lebt von der Spannung zwischen Vorlage und Bearbeitung, ja es gewinnt an Reiz in dem Maße, in dem man den Prozeß der Auseinandersetzung Muschgs mit dem politischen Standort Goethes zu verfolgen vermag. Muschg scheint mit seiner Bearbeitung einen ganz bestimmten Zweck verfolgt zu haben, und zwar einen politischen. Die nachfolgenden Betrachtungen stellen einen Versuch dar, Muschgs Aufforderung nachzukommen und die beiden Werke zu vergleichen. Es soll in großen Zügen festgehalten werden, warum Goethes Fragment bis anhin so stiefmütterlich behandelt worden ist, was Muschg dazu bewogen hat, gerade auf dieses relativ wenig bekannte Werk zurückzugreifen, und wie er es verändert und dem heutigen Publikum erschlossen hat. Für die Entstehung von Goethes Die Aufgeregten waren zwei Ereignisse entscheidend: die Übernahme des Weimarer Theaters im Mai 1791 und der Ausbruch der Französischen Revolution. Es mangelte dem Theaterdirektor Goethe ganz einfach an spielbaren Stücken, und das Thema, das sich ihm zu der Zeit aufdrängte, dem er sich nicht zu entziehen vermochte, war die Französische Revolution. Diese hat Goethe gewissermaßen eine Politisierung wider Willen aufgezwungen, ihm, der sich daran gewöhnt hatte, "Staat und Gesellschaft des ausgehenden Rokoko als selbstverständliche und unerschütterliche Gegebenheit" hinzunehmen.7 Angesichts der zahlreichen und vielzitierten Aussagen Goethes zur Französische Revolution besteht kein Zweifel, daß ihm dieses Ereignis im Grunde genommen zuwider war.8 Wohl wünschte auch er sich eine Verbesserung der Verhältnisse, doch schreckte ihn der Umsturz alles Vorhandenen. Es war ja nicht ersichtlich, was denn Besseres erfolgen sollte, und "Reformen anstatt einer Revolution erschienen ihm menschenwürdiger."9 Was Deutschland anbelangte, so war Goethe ohnehin der festen Überzeugung, daß kein echtes Bedürfnis nach Revolution und Demokratie vorhanden war und daher jegliche Revolution zum vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre: "Alle Versuche, irgendeine ausländische Neuerung einzuführen, wozu das Bedürfnis nicht im tiefsten Kern der eigenen Nation wurzelt, sind daher töricht, und alle beabsichtigten Revolutionen dieser Art ohne Erfolg."10 Trotz seiner Abneigung der Französischen Revolution gegenüber hat sich Goethe jedoch immer wieder bemüht, wenn auch nie zu seiner eigenen Zufriedenheit, "dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen" dichterisch zu bewältigen.11 Die Aufgeregten, ein "politisches Drama in fünf Aufzügen," das 1817 in der Cotta-Ausgabe erstmals veröffentlicht wurde, ist Goethes dritter Versuch, die Franz...

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