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LEO LÖWENTHAL Goethe und die falsche Subjektivität Meine ursprüngliche Begeisterung über die ehrenvolle Einladung der Stadt Frankfurt, den Festvortrag aus Anlaß des 150. Todestages von Goethe zu halten, wich bald einer tiefen Depression. Ich dachte an Walter Benjamin, der vor genau 50 Jahren zum 100. Todestag von Goethe schrieb: "Jedes in diesem Jahr über Goethe eingesparte Wort ist ein Segen." Dann stieß ich auf Thomas Manns lapidare Bemerkung anläßlich des 200. Geburtstags Goethes 1949 in einem Vortrag über "Goethe und die Demokratie": "Ich habe Ihnen nichts Neues zu sagen." Und als ob das nicht genug wäre, bescheinigte uns Leo Kreutzer erst kürzlich: "An Goethe knüpft keine Idee mehr an, die noch irgendeine nennenswerte Rolle zu spielen vermöchte." Langsam erholte ich mich wieder, als ich mich mit der gegenwärtigen Sekundärliteratur vertrauter machte und Formulierungen fand wie etwa die vom "kulturellen Mehrwert" im Wilhelm Meister oder die Ankündigung eines "Psychogramms eines großen Menschen und Dichters" und viele weitere Ausflüge ins Mythologische, Hermeneutische, Existentielle, Strukturalistische, Post-Strukturalistische—und ich überlasse es Ihnen, andere Kategorien in diese gängige Liste einzusetzen. Ich überlegte also von neuem die Frage meiner Legitimation. Und da ich nun einmal ein Schüler des hiesigen Goethe-Gymnasiums war, der einen Abituraufsatz über das Thema schrieb: "In wie weit ist auch Tusso das Bruchstück einer großen Konfession?" und auch einen etwas verbeulten Doktorhut aus dem Jahre 1923 der Johann Wolfgang Goethe Universität trage und schließlich auch noch als einer der Väter der heute so genannten Frankfurter Schule gelte, habe ich mir selbst Mut zugesprochen und stehe nun vor Ihnen. Lange genug hat Goethe in der Wirkungsgeschichte die Rolle des pontifizierten Kronzeugen oder auch des verlästerten Prügelknaben spielen müssen, hinter der sich im Grunde nur die Abwesenheit echten historischen Bewußtseins und Traditionsempfindens verbirgt. Die Absurdität, um nicht zu 2 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA sagen Immoralität, der Vermarktung dieses meist-zitierten und meist ungelesenen Genies drückt sich wohl am prägnantesten in dem dummen Satz aus dem I. Weltkrieg aus, daß der deutsche Soldat seinen Faust und seinen Zarathustra im Tornister getragen habe. Wobei Goethe und Nietzsche eines über allen Zweifel gemeinsam hatten: das unverbrüchliche Bekenntnis zum Weltbürger und den kritischsten Vorbehalt gegen die "Vaterländer" und insbesondere gegen Deutschland als einer verwalteten Nation: Das "Vaterland [ist] nirgends und überall" in Goethes Worten. Das chronologische Schicksal will es, daß Goethefeiern in runden 50 und 100 Jahren für Geburt und Tod bisher immer auf kritische Momente der deutschen Geschichte fallen. Hundert Jahre nach seiner Geburt, 1849, kurz nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution, blieb es fast stumm um ihn. 1882 und 1899 geriet sein Ruhm in den verlogenen Sog wilhelminischer Verklärung, der Gründerjahre und des deutschen "Weltgenesens." Man lese zum letzten Datum Stefan Georges verärgertes Gedicht "Goethetag." Und zum ersten Datum können wir nur mit Schaudern hören—denn wir wissen, was später geschehen ist—, was der Vorstand der neugegründeten Goethe-Gesellschaft in seinem ersten Aufruf verkündet: "Ein großes nationales Reich weiß den größten seiner Dichter in seinem vollen Wert zu schätzen; die Begründung und Erhaltung der politischen Größe unseres Volkes geht Hand in Hand mit der Pflege und Förderung seiner idealen Güter." 1932 fand das Goethe-Jahr dann am Vorabend des Zeitalters der absoluten Sündhaftigkeit statt—ich komme später auf dieses Jahr zurück—und 1949 im Schatten des Schocks der vollzogenen Zerstörung. Im August 1949 veranstaltete die Frankfurter Universität zu Ehren von Goethes 200. Geburtstag einen Internationalen Gelehrtenkongreß, zu dessen Eröffnung der von mir hochverehrte damalige Rektor Franz Böhm eine Begrüßungsansprache hielt, auf die ich übrigens durch Leo Kreutzers ketzerisches Buch Mein Gott Goethe stieß. Franz Böhm hat in mutiger Weise das lächerliche Alibi zerstört, mit dem Deutsche in stilisierten Feierstunden nationalen Triumphs oder nationaler Niederlage sich ihren Goethe zur Verklärung oder zur Verdeckung aller vermeintlichen Großtaten und aller realen Schandtaten heranzitiert haben. Franz Böhm sagte: "Der Ruf: Zurück zu Goethe! macht uns nicht...

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