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DIETER BORCHMEYER "Laß mich hören, laß mich fühlen": Johann Sebastian Bach im Urteil Goethes Wer Musik nicht liebt, verdient nicht, ein Mensch genannt zu werden, wer sie nur liebt, ist erst ein halber Mensch, wer sie aber treibt, ist ein ganzer Mensch."1 So soU Goethe 1822 zu dem Musiker Joseph Pleyer gesagt haben. In seinem Vorbericht zum Briefwechsel Goethes mit Zelter hat Riemer 1833 bemerkt, "Tonkunst und BUdkunst" seien als "die notwendigsten Organe von Goethes Wesen" zu betrachten. Trotz jenes Kompliments für einen Musikanten und dieses UrteUs aus der Feder eines der engsten Mitarbeiter Goethes ist bis heute das VorurteÜ nicht verstummt, die Musik habe unter den Künsten die geringste RoUe Ui seiner geistigen Welt gespielt, sie stehe völUg im Schatten seiner Beziehung zumal zur bUdenden Kunst. Und doch hat er Ui der Geschichte der bUdenden Kunst weit weniger bedeutende Spuren hinterlassen als Ui der Musik. Ihre neuere Geschichte wäre ohne Goethe geradezu unvorsteUbar. Fast keiner der großen Musiker—zumindest in Deutschland—vom Beginn des 19. bis ins 20. Jahrhundert ist ohne ihn ausgekommen, ja in vielen FäUen stehen die Lektüre und musikalische Auseinandersetzung mit Goethe so sehr im Zentrum ihres ästhetischen Kosmos, dass man beinahe behaupten könnte: ohne ihn hätte ihr Werk eine andere geistige, ja vietfach eine andere künstlerische Gestalt. Genannt seien nur die Namen Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Mahler, Strauss, Busoni oder schUeßUch Webern—der Goethe nicht nur vertont hat, sondern für dessen Kompositionslehre und Reihentechnik seine Farbenlehre und Morphologie eme geradezu mäeutische RoUe gespielt haben. In der Geschichte der WeltUteratur gibt es kernen Dichter, der einen vergleichbaren Einfluss auf die Musik gewonnen hat wie Goethe, ja eine bestimmte musikaUsche Gattung, die außerhalb Deutschlands heute mehr denn je als Inbegriff deutscher Kultur gUt, hätte sich ohne ihn nie in dieser Form und zu dieser Höhe entwickelt: das Kunstlied, "Ie hed," wie die Franzosen sagen, ein Wort, das niemals Un Dictionnaire stünde, hätte es Goethe nicht gegeben. In der chinesischen Transkription des Namens Goethe fallen gar "Lied" (erste SUbe) und "deutsch" (zweite SUbe) zusammen, wird sein Name also zum Synonym für das deutsche Lied. Und das ist nicht abwegig: Goethes Gedichte sind seit fast zweihundert Jahren "die bei weitem am häufigsten komponierten Texte der WeltUteratur," so Goethe Yearbook XII (2004) 190 Dieter Borchmeyer Friedrich Blume im Goethe-Artikel der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart? WirkungsgeschichtUch betrachtet steht Goethe mithüi weit näher bei der Musik als bei der bildenden Kunst, zumindest spielte sich seine Wftkungsgeschichte—gewiss nicht nur, aber doch vor aUem—auf den obersten Rängen der Musik, dagegen vielfach auf den unteren Rängen der bUdenden Kunst ab. Ganz abgesehen von seiner den Kenntnisstand eines musikaUsch GebUdeten seiner Zeit weit überragenden Beschlagenheit Ui der Musikgeschichte, seiner ständigen musikaUschen Neugier und intensiven, kritischen Hörbereitschaft—von bekannten oder befreundeten Musikern wie dem Organisten Schütz in Berka oder von Mendelssohn-Bartholdy Ueß er sich stundenlang vorspielen, und seine häufigen Hauskonzerte bUdeten ein Herzstück seines Lebens—war er musikaUsch versiert genug, "sich durch Notenlesen zureichende VorsteUungen von einer Komposition zu machen, wenn es freüich auch seiner Natur entsprach, dass jede Musik für ihn erst durch VersUinlichung voües Leben gewann."4 Er erwarb Partituren, etwa von Bachs Wohltemperiertem Klavier, das ihm wegen seules Interesses an der Frage der natürUchen oder temperierten Stimmung (wie sie sich in seiner Niederschrift der "Naturtöne des Waldhorns" niederschlägt, den einzigen Noten Ui seinem handschriftUchen Nachlass) besonders wichtig war, ja Autographen, etwa von Mozart und Beethoven, welche er auch dem zwölfjährigen FeUx MendelssohnBartholdy vorlegte, der sie zu seinem Entzücken auf dem Klavier zum Klingen brachte. Um die Originalpartitur der Zauberflöte hat Goethe sich lange Jahre vergebUch bemüht. Und wie stark überhaupt sein theoretisches und praktisches Interesse an der Oper war, zeigen sowohl seine zahlreichen Singspiele und Opernentwürfe—sie umfassen ungefähr ein Drittel seines dramatischen Oeuvres—als auch sein Weimarer Opernspielplan, Ui dessen Mittelpunkt Mozart stand. Das Haus am Frauenplan wurde seit Beginn des neuen Jahrhunderts zu einem förn...

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