In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

HELMUTJ. SCHNEIDER Dichter, Herrscher, Natur: Die Entstehung des Ilmparks und das Bild des Parks in Goethes Dichtung Jedem Goethekenner dürften bei dem Thema "Garten und Park" unwillkürlich eine Fülle von größeren oder kleineren Beispielen einfallen, die sich über die gesamte Werkchronologie und die Biographie erstrecken. Eine besondere Rolle kommt dabei dem englischen Landschaftspark zu, jenem Gartentyp also, der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa verbreitete und den in der ersten Jahrhunderth älfte dominierenden französischen Park ablöste. Es handelte sich um ein komplexes Gesamtkunstwerk, dessen organisierendes Prinzip die Gestaltung der Natur als eine freie Bilderfolge und dessen Absicht die totale Illusionierung des Betrachters, genauer Begehers war. Für die moderne Naturästhetik und überhaupt den neuzeitlichen Prozess, den wir die "Entdeckung der Natur" nennen, kann die Bedeutung des englischen Parks kaum überschätzt werden; hier schulte sich unsere Landschaftswahrnehmung , hier erhielt das "landschaftliche Auge," indem ihm die statische Überblicksperspektive des französischen Parks entzogen und in eine Vielzahl einzelner Blickpunkte aufgelöst wurde, jene Beweglichkeit, die geradezu als ein Symbol der Moderne angesehen werden kann. Der englische Landschaftsgarten war ausgelegt auf die Abwechslung der Ansichten und Prospekte, der Nah- und Fernblicke, einzelner "Szenen" und "Örter," die sich dem Spaziergänger überraschend darboten. Damit inszenierte er den offenen Charakter einer nachkopernikanischen Welt. Der wandelnde Betrachter ließ sich die Schöpfung gleichsam im Gefühl einer immerwährenden Bescherung, aber zugleich der selbstbewussten Eroberung zufallen. Wie es Joseph Addison in seinen programmatischen Essays über die Einbildungskraft zu Beginn des Jahrhunderts formulierte: Ein solcher Betrachter sieht sich der überwältigenden Mannigfaltigkeit der Welt genussreich ausgesetzt und eignet sie sich in ästhetischer Wahrnehmung an. Die entfernteste Welt liegt gewissermaßen nur einen Lidschlag entfernt: "It is but opening the Eye, and the Scene enters."1 Die epochale Bedeutung dieser neuen Naturgestaltung ist in den letzten beiden Jahrzehnten von einer breiten, interdisziplinär orientierten Forschung herausgearbeitet worden.2 Dabei wurde auch die kultursymbolische Bedeutung sichtbar, die das Parkphänomen im Goetheschen Goethe Yearbook XII (2004) 94 Helmut J. Schneider Oeuvre hat.3 Von wichtigen Werken Goethes, in denen der englische Landschaftsgarten eine Rolle spielt, seien Werthers Leiden, Tasso und Natürliche Tochter sowie die Wahlverwandtschaften genannt. Vor diesem globalen Hintergrund möchte ich im folgenden einige genauere Schlaglichter auf Goethe werfen, wobei mir der Weimarer Ilmpark, an dessen Entstehung Goethe maßgeblich beteiligt war, zum konkreten Ausgangspunkt dient. Zwei Aspekte sollen im Vordergrund stehen: Zum einen ein politischer, der mit dem Stichwort des "aufgeklärten Absolutismus" bezeichnet und besonders für den deutschen Kontext wichtig ist; und zum anderen ein im engeren Sinn ästhetischer, der mit dem im sog. Sturm und Drang zum Durchbruch gelangten natürlichen Ausdrucksideal zusammenhängt. Fraglich ist—und als Frage soll gestellt werden—ob ein Zusammenhang hergestellt werden kann zwischen der politischen und der ästhetisch-poetologischen Dimension. Um dies annäherungsweise zu beantworten, werde ich zum Schluss einige Züge der literarischen Parkgestaltung in Goethes späterer Dichtung skizzieren.—Doch zunächst zum realen, dem Weimarer Park an der lim. I Der neue, und das heißt nach dem Vorhergesagten der moderne Ilmpark in Weimar verdankt seinen Ursprung einer signifikanten Szene, die in spielerischer Form die Abkehr von der absolutistischen Herrschaftsrepr äsentation und die Hinwendung zu einem Raum intimer Kommunikation demonstriert. So jedenfalls stellt es sich in der viele Jahrzehnte später (1830) aus der Erinnerung geschriebenen und symbolisch überhöhten kleinen Skizze Goethes, "Das Louisenfest," dar, der ich mich zunächst zuwenden möchte. Zuerst zur Vorgeschichte, wie sie Goethes Schilderung zum Ausgangspunkt nimmt.4 Das alte Weimarer Schloss war 1774 niedergebrannt und hatte den Hof für die Dauer des Neubaus in Ausweichquartiere auf den Landschlössern Tiefurt und Belvedere verdrängt, wo er in engeren Kontakt mit der Naturumgebung geriet. So jedenfalls sah es der Frankfurter Reichsstädter, der zu dieser Zeit in der kleinen Residenzstadt ankam und später von dem "unschätzbaren Gewinn" spricht, die "Stuben- und Stadtluft mit Land-Wald- und Garten-Atmosphäre zu vertauschen."5 Ans Schloss grenzten seit dem 17. Jahrhundert zwei unterschiedliche Gartenanlagen: Das eingefriedete Rechteck des sog. "Welschen Gartens," der in den vorhergehenden Jahrzehnten ganz verfallen war, und am anderen, rechten...

pdf

Share