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  • Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas. (1956)
  • Klaus L. Berghahn

Es gibt bekanntlich in jeder akademischen Bildungsgeschichte eine Genealogie von realen, adoptierten und gewünschten Lehrern. Als Peter Szondi 1967 Theodor W. Adorno in Berlin aus Anlaß eines Vortrags einführte, tat er es mit folgender Huldigung: Leider habe er nie bei ihm studiert, doch auf die Frage, wessen Schüler er sei, würde er keine Minute zögern, sich zu ihm auch in diesem akademischen Sinne zu bekennen.1 Das Gleiche könnte auch ich über Peter Szondi sagen, seit ich Anfang der sechziger Jahre als Student seine Dissertation Theorie des modernen Dramas las—und danach fast all seine Publikationen bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1971.

Peter Szondis Theorie des modernen Dramas (1956)2 ist zweifellos eine der bekanntesten und einflußreichsten Dissertationen nach 1945, ja man kann sie ohne Übertreibung zu den "modernen Klassikern der Literaturwissenschaft" zählen.3 Sie wurde 1954 in Zürich von Emil Staiger mit den drei ersten Kapiteln angenommen und mit summa cum laude bewertet. Erst für ihre Publikation beim Suhrkamp Verlag im Jahre 1956 kam das umfangreiche letzte Kapitel, "Lösungsversuche," hinzu. Seither ging sie durch mehrere Auflagen (1999 unter den erweiterten Titel Theorie des modernen Dramas, 1880–1950), wurde ins Italienische (1962), Schwedische (1972), Polnische (1976), Französische (1983) und Englische (1987) übersetzt, und dürfte damit wohl auch die folgenreichste germanistische Dissertation sein.

Was erklärt diesen ungewöhnlichen Erfolg? In erster Linie wohl das in Deutschland wieder erwachende Interesse an der klassischen Moderne und moderner Literartur nach 1945. Es sei nur an den Erfolg von Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik (1956, zahlreiche Auflagen, mit einer erweiterten Neuauflage 1985), an die Neuauflage von Kurt Pinthus' Anthologie expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung oder die in Westdeutschland [End Page 307] beginnende Brecht-Forschung erinnert.4 Die Faustregel des Positivismus, daß man ein Werk erst fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen wissenschaftlich behandeln dürfe, schien nicht länger zu gelten.

Auch die "werkimmanente Methode," die sich nach 1945 als Antwort auf die Nazi-Ideologie der Germanistik des Dritten Reiches durch Bücher von Emil Staiger (Grundbegriffe der Poetik, 1946) und Wolfgang Kayser (Das sprachliche Kunstwerk, 1948) fest etabliert hatte, schien um 1956 nicht mehr so monolithisch, wie sie oft kritisiert wurde.5 Jedenfalls blieb Peter Szondi dabei nicht stehen. Zwar schien er seinem Lehrer zu folgen, indem er sich auf dessen Grundbegriffe der Poetik berief. Hatte dieser doch, gestützt auf Goethes "Naturformen der Dichtung," die Gattungstrias als zeitlose, ontologische Konstanten der Dichtung bestimmt. Doch diente sie Szondi lediglich als methodischer Kontrast, den er in der Einleitung seiner Dissertation verwarf. (10f.) Was Szondi übernahm, war ein damals weit verbreiteter idealtypischer Ansatz, wie er ihn in seiner Charakterisierung des klassischen Dramas verwendete.6

Das ist jedoch nur eine methodische Grundlage seiner Dissertation, die er im "Schlußwort" der Buchfassung von 1956 erweiterte. In dieser wohl kürzesten bilbliographischen Notiz einer poetologischen Abhandlung heißt es: "Entscheidende Einsichten verdankt die Untersuchung der Hegelschen Ästhetik, E. Staigers Grundbegriffen der Poetik, dem Aufsatz von G. Lukács "Zur Soziologie des modernen Dramas"7 und Theodor. W. Adornos "Philosophie der neuen Musik." (162) In der Einleitung erwähnt er neben Adorno auch noch Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und Georg Lukács' Theorie des Romans als Vorbilder einer "historischen Ästhetik." (11) Das war in der damaligen Literaturwissenschaft eine unerhörte Genealogie, die weit über die herrschende werkimmante Methode hinausging.8 Was Szondi im Sinn hatte, war nichts weniger als eine "Historisierung der Gattungspoetik." Das hatte zur Folge, daß Goethes "Naturformen der Dichtung," auf die sich Staiger noch berief, nun "aus systematischen Kategorien zu historischen" wurden. (10) Dazu diente ihm die Form-Inhalt-Dialektik von Hegels Ästhetik, auf die sich auch Adorno in seiner "Philosophie der neuen Musik." berief. Doch während diese Dialektik in der idealistischen Ästhetik eine Tilgung des Inhalts durch die Form fordert, interessierte sich Szondi für den Widerspruch zwischen Inhalt und Form, Stoffwahl und Drama, wie er als "Krise" im modernen Drama zum Ausdruck kommt und welche "Rettungs- und Lösungsversuche" dafür gefunden wurden. (11) Es läßt sich jedoch unschwer erkennen, daß Lukács...

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