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  • Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine. Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Bertolt Brecht
  • Vera Stegmann
Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine. Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Bertolt Brecht. Von Sabine Kebir. Algier and Berlin: Lalla Moulati, 2006. 410 Seiten. €25,00.

Sabine Kebir hat ein vielseitiges und vielschichtiges Repertoire an Büchern veröffentlicht. Die Autorin, die sowohl im östlichen, westlichen und vereinigten Berlin wie auch in Algier gelebt hat, ist nicht nur in mehreren geographischen und kulturellen, sondern auch geistigen und thematischen Bereichen zu Hause: Sie habilitierte über Antonio Gramsci, reflektierte über ihre Erfahrungen in Algerien in mehreren Büchern über den Alltag in islamischen und afrikanischen Gesellschaften, verfasste eigene Romane, Märchen und Kinderbücher, und sie ist Expertin über Leben und Werk der weiblichen Mitarbeiter Bertolt Brechts. Zu diesem letzteren Themenkomplex erschienen von ihr schon mehrere Bücher: Ich fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht (1997), Abstieg in den Ruhm. Helene Weigel: eine Biographie (2000) und Ein akzeptabler Mann? Brecht und die Frauen (1987), ein Band, der mehrfach wiederaufgelegt wurde, zuletzt 2003, und inzwischen bei Aufbau als Taschenbuch vorliegt.

2006 folgte nun ihr Buch über Ruth Berlau, Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine . Nach Hans Bunges früher Herausgabe der Erinnerungen Berlaus, Brechts Lai-tu (1985), die oft als Berlaus Autobiographie betrachtet wurden, ist dies der erste Band, der sich vollständig Ruth Berlau widmet. 2003 veröffentlichte Grischa Meyer einen Band über Berlau als Fotografin—Ruth Berlau. Fotografin an Brechts Seite—und 2005 enthielt das Brecht Jahrbuch 30 einen ausgiebigen Abschnitt über Berlau, in dem auch Kebir mit zwei Artikeln vertreten ist, doch ihr Buch bietet die erste umfassende Biographie Berlaus.

Kebirs Text basiert auf jahrelanger Forschung und Archivarbeit in Berlin, Kopenhagen und New York. Sie durchforstete das Ruth-Berlau-Archiv der Akademie der Künste in Berlin, das 50.000 Blätter enthält, ebenso die etwa 1500 Blätter zu Berlau im Brecht-Archiv und die umfangreichen, nicht quantifizierten Bestände der Königlichen Bibliothek Kopenhagen. Das Resultat ist ein informatives, ausgewogenes Bild der Frau und Künstlerin Ruth Berlau, das sich einer simplen Ideologisierung widersetzt.

Kebir gliedert ihre Biographie chronologisch, von Berlaus Jugend in Skandinavien über die Exilzeit, in der sie Brecht und seiner Familie nach Amerika folgte, bis zu ihrer Rückkehr nach Europa, in das Ost-Berlin der Nachkriegszeit. Ein psychoanalytisch geprägter Ansatz verbindet die verschiedenen Stufen in Berlaus Leben: Kebir [End Page 135] vermutet, dass Berlau an einer "Borderline-Krankheit" litt. Tatsächlich könnten viele Verhaltensweisen Berlaus auf Borderline-Symptome hinweisen—Angst vor Trennung oder Verlassenwerden, aggressives und autoaggressives Verhalten, Depressionen, Drogenkonsum, polymorphe Sexualität, Sucht, Suizidtendenzen. Traumatische Kindheitserfahrungen, die oft zu Borderline-Störungen führen, waren auch bei Berlau gegeben: Ruth wuchs in einem zwar wohlhabenden, aber gestörten Elternhaus auf. Die Ehe der Eltern war unglücklich, und Berlaus Mutter unternahm einen Selbstmordversuch, der missglückte, weil Ruth und ihre Schwester Edith sie ins Krankenhaus brachten. Der Vater reichte an dem Abend seine Scheidung ein, so dass Ruth als Jugendliche Kontakt zu ihrem Vater verlor. Sie suchte schnell andere Bindungen und hatte schon als Dreizehnjährige ihre erste Sexualbeziehung und Abtreibung. Ihre Schwester Edith, die später an Schizophrenie litt und auch wegen Liebesproblemen versuchte, sich das Leben zu nehmen, verbrachte einen Großteil ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten und nur ihre letzten Jahre glücklich in Australien. In diesem Kontext erfahren wir etwas über die chauvinistischen medizinischen Umstände der Zeit: Im frühen zwanzigsten Jahrhundert konnten sowohl in Dänemark als auch in Deutschland selbstmordgefährdete liebeskranke Frauen jederzeit in geschlossene Anstalten oder Nervenkliniken eingewiesen werden. So ist es vielleicht kein Zufall, dass die junge Ruth sich in erster Ehe mit dem älteren, renommierten HNO-Arzt Robert Lund vermählte, und dass ihre spätere Beziehung zu Brecht oft den Charakter eines Therapieverhältnisses annahm. Kebir interpretiert z. B. Me-ti. Buch der Wendungen als ein behavioristisches Therapieprogramm Brechts für Ruth Berlau, das sie von ihren Minderwertigkeitskomplexen befreien und es ihr erleichtern sollte, ihre Gefühle der Vernunft oder dem Verstand unterzuordnen. Kebir betont, dass eine solche Identität von Therapeut...

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