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  • Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig
  • Marcel Rotter
Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig. Von Angelika Winnen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006. 317 Seiten. €44,00.

Dass die Kulturfunktionäre der DDR Franz Kafka als einen formalistischen und de-kadenten Autor ansahen, als eine "literarische persona non grata" (18), ist heute in den meisten Literaturgeschichten nachzulesen. Das heißt allerdings nicht, dass eine Rezeption von Kafkas Werk in der DDR-Literatur nicht stattgefunden hätte. Wenige Studien liegen bisher zu dieser Rezeption vor. Die einzige längere, Karlheinz Fingerhuts Produktive Kafka-Rezeption in der DDR aus dem Jahr 1985, bildet den Ausgangspunkt für Angelika Winnens Untersuchung. Sie folgt Fingerhuts Auffassung von der Determination der Lektüreprozesse durch den gesellschaftlichen und historischen Erfahrungskontext (16) und der Instrumentalisierung Kafkas als "subkulturellen Code," der der sklavensprachlichen Verständigung zwischen Autor und Leser bzw. unter den Autoren dient. Winnen stimmt jedoch nicht Fingerhuts Argumentation zu, dass die kritische Tendenz der Rezeption in den 1980er Jahren zu einer literarischen Diskussion zurückkehre und eine "vorsichtige Kafka-Rehabilitierung" einsetze.

Die Autorin greift auf die Konzepte der Intertextualitätstheorien von Max Pfister und Ulrich Broich zurück und setzt sich zum einen das Ziel, nicht nur die intertextuellen Bezüge zwischen Kafkas Primär- und den jeweiligen Posttexten zu prüfen, sondern auch zu analysieren, wie sie "zur Poetik des jeweiligen Textes beitragen" (11). Ein zweites Ziel besteht in der Untersuchung des Kafka-Bildes des jeweiligen Autors und inwieweit dieses "vor dem Hintergrund des kulturpolitischen Diskurses der DDR [End Page 640] entstanden und zu verstehen ist" (11). Abschließend stellt sie sich die "Frage nach gemeinsamen Tendenzen und Traditionen der Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR" (12).

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Werke von vier DDR-Autoren aus den 1970er und frühen 1980er Jahren: Anna Seghers' Reisebegegnung, Klaus Schlesingers Die Spaltung des Erwin Racholl, Gert Neumanns Elf Uhr und Wolfgang Hilbigs Der Heizer. Ihnen werden jeweils eigene Kapitel gewidmet. In zwei kleineren Kapiteln wird darüber hinaus summarisch auf Werke von Bertolt Brecht, Heiner Müller, Christa Wolf, Jurek Becker und Franz Fühmann eingegangen. Darüber hinaus fasst Winnen auch die kulturpolitischen Diskussionen um Kafka zu verschiedenen Zeiten in der DDR zusammen.

Im analytischen Vergleich der Primär- und Posttexte gibt die Autorin zunächst jeweils eine inhaltliche Zusammenfassung des Posttextes, so dass die Argumentation auch für den Leser, der diese Texte nicht kennt, nachvollziehbar bleibt. Auch Hinweise auf die oft wichtige Publikationsgeschichte (ost-, westdeutsche Verlage) und die Zensur fehlen nicht. Die Analyse selbst ist logisch und umfassend und bezieht die aktuelle Sekundärliteratur ein.

Am Ende kommt Angelika Winnen zu dem Ergebnis, dass das Kafkabild der DDR-Autoren trotz des z. T. gemeinsamen gesellschaftlichen und historischen Hintergrundes doch sehr unterschiedlich ist. Es reicht von einer eher kritischen Aneignung von Kafkas Texten durch Anna Seghers, Bertolt Brecht, Heiner Müller und Christa Wolf zu einer überwiegend gesellschaftskritischen Rezeption durch Klaus Schlesinger. Während der letztere jedoch seine Erzählung Die Spaltung des Erwin Racholl in der DDR veröffentlichen konnte, konnten Gert Neumanns Elf Uhr und Wolfgang Hilbigs Der Heizer, dessen Titel bereits auf Kafkas Amerika-Romanfragment verweist, nur im Westen erscheinen. Ihre utopische Rezeption von Kafka, ihr "Versuch eines Zur-Sprache-Kommens" (290) waren im Vergleich zu den Werken Anna Seghers' und Klaus Schlesingers weit komplexer und radikaler. Diese ganz unterschiedliche Verarbeitung der Prätexte Franz Kafkas wird noch an den Beispielen von Jurek Becker und Franz Fühmann unterstrichen.

Angelika Winnen beobachtet dabei eine Entwicklung der Rezeption innerhalb der 1970er und 1980er Jahre: Während auf Grundlage des sozialistisch-utopischen Weltbildes Anfang der 1970er Jahre noch die kritische Aneignung Kafkas überwog (Seghers, Brecht, Wolf), wird im weiteren Verlauf des Jahrzehnts Kafka nicht mehr als 'Dichter der Ausweglosigkeit' kritisiert, sondern für die Texte (Fühmann, Schlesinger, Becker) produktiv gemacht, oft in gesellschaftskritischer Weise. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre wird schließlich Kafkas utopisches Potential entdeckt und neu besetzt.

Bei aller Unterschiedlichkeit stellt die Autorin allerdings auch...

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