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  • Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms
  • Antje Krüger
Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Herausgegeben von Friedhelm Marx, Stephanie Catani und Julia Schöll. Göttingen: Wallstein, 2007. 252 Seiten. €28,00.

"Ein Mann kommt aus der Gefangenschaft. [. . .] In einer der Ruinen entdeckt er eine Nähmaschine, eine etwas angerostete Pelznähmaschine. Er leiht sich einen Handwagen, holt die Maschine, entfernt den Rost, ölt sie, mietet ein Zimmer in einem Keller, kauft sich ein Buch Der Deutsche Kürschner, hängt ein Schild hinaus: Kürschnerei" [End Page 457] (14/15). Wie könnte es anders sein—Timms Essay, der den vorliegenden Band Erinnern, Vergessen, Erzählen einleitet, beginnt mit einer Geschichte. Am Beginn seines Beitrags steht dabei die Beschreibung eines Mythos der eigenen Familie—die Gründung des väterlichen Pelzgeschäftes—die ihn zu Überlegungen über den Begriff anregt. "Mythos" übersetzt er als einen Modus "hochverdichteter Sinndeutung, [. . .] der sinnfällig aus sich spricht und bildhaft ist" (16). Er vertritt die These, dass die dem Mythos zugrunde liegende Sinndeutung nicht nur aus dem Erzählen hervorgehe, sondern diese auch einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit ausübe (20). Nach Marx und Catani eröffnen diese Überlegungen "den Raum für die Frage nach den Bedingungen seines Erzählens und Erinnerns" (8).

Dieser Frage widmet sich der vorliegende Band, der aus dem Symposium "Kulturen der Erinnerung im Werk Uwe Timms" hervorging. Es mag dabei kaum überraschen, dass sich die Hälfte der Beiträge auf die Erzählung Am Beispiel meines Bruders (2003) konzentriert, da Timms Auseinandersetzung mit der mutmaßlichen Beteiligung seines Bruders als SS-Soldat an Kriegsverbrechen von Literaturkritikern und Lesern sehr stark rezipiert wurde. Darüber hinaus löste die Erzählung in Feuilletons und Fachkreisen erneut Diskussionen über die Darstellung familienbiografischer Erinnerungen der NS-Zeit aus.

Einen wichtigen Bezugspunkt für die Literatur- und Kulturwissenschaftler liefert die von Welzer aufgestellte These, dass viele der sich mit der NS-Zeit beschäftigenden so genannten "Familienromane" die Tendenz aufweisen, glättend zu erzählen (34). Mit Bezug auf Welzer, der Timms Erzählung von dieser Einschätzung jedoch explizit ausnimmt, setzen sich Friedhelm Marx, Dirk Niefanger, Michael Braun, Andrea Albrecht, Matteo Galli, Martin Hielscher und Ulrich Simon mit der von Timm geleisteten Erinnerungsarbeit auseinander. Marx macht deutlich, dass sich der Text dadurch gegen "glättendes Erzählen" sperrt, dass Timm kollektive und private Formen der Erinnerung gegenüber stellt und so "Familiengeschichte an die 'große Geschichte' anbindet und den familiären Erinnerungsprozeß mit historiographischen Darstellungen abgleicht" (35). Den Blick auf die formale Gestaltung der Erzählung, d.h. das 'Wie' der Erinnerung, richten auch Niefanger, Braun, Albrecht und Simon. Ihre Untersuchungen belegen, dass Timms Erzählung als poetologische Reflexion über den Umgang mit Geschichte verstanden werden kann. Herausragend sind darunter die Beiträge von Braun und Albrecht.

Braun versteht Timms Erzählung als Versuch, gerade die Unsicherheiten, Uneindeutigkeiten und Lücken im kommunikativen und kollektiven Gedächtnis vorzuführen. Laut Braun dekuvriert Timm sowohl die Unzuverlässigkeit der mündlichen Überlieferung der eigenen Familie, wie er auch das Medium Schrift als "Verewigungsmedium und Gedächtnisstütze" im Sinne Jan Assmanns radikal in Frage stellt (64). Das erinnernde Ich erscheint ihm als "Archäologe" (62), der keine eindeutigen Antworten geben kann, sondern Fragen nach dem angemessenen Gedenken an die Täter und Opfer an die Leser weitergibt. Ähnlich argumentiert auch Albrecht, wenn sie die Grenzen konstatiert, die Timms Recherchearbeit aufgrund fehlender Dokumente gesetzt sind. Timm stellt daher eine Beschreibung des eigenen Erinnerungsprozesses vor, der den Leser mit den Stellungnahmen, Emotionen und Konflikten des erzählenden Ichs konfrontiert (84).

Während die Kultur- und Literaturwissenschaftler sich einig sind, dass es in der Erzählung Am Beispiel meines Bruders auch um eine Auseinandersetzung mit [End Page 458] Geschichtsschreibung geht, bietet dagegen Timms Darstellung des Bruders Anlass zur Kontroverse. Niefanger postuliert beispielsweise, dass Timm in seiner Erzählung den Bruder als Täter "stilisiert," um die psychosozialen Rollen innerhalb der eigenen Familie neu zu strukturieren (49). Simon äußert sich dagegen äußerst kritisch über Timms Annäherung. Nach Simon dominiert der Wunsch des Autors, dass sich hinter den...

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