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  • Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft
  • Dirk Oschmann
Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft.Von David E. Wellbery. München: Hanser, 2006. 272 Seiten. €21,50.

Nicht die Literaturgeschichte, nicht die Philosophie und auch nicht die Kunstreflexion stiftet den Rahmen des methodologischen Anspruchs, den David Wellbery im Nachwort seines Sammelbandes Seiltänzer des Paradoxalen formuliert, sondern das von Nietzsche in der Geburt der Tragödie skizzierte Konzept einer "ästhetischen Wissenschaft," die in Wellberys Sicht "zwischen Philologie (mitsamt ihren Hilfs-und Nebendisziplinen) und philosophischer Ästhetik" zu vermitteln habe (233). In expliziter Absetzung von Gadamers Hermeneutik fordert er, die Opposition von Wahrheit und Methode aufzugeben und die jedem individuellen Kunstwerk eingeschriebene "ästhetische Prozeßhaftigkeit" am Leitfaden strenger methodologischer Prinzipien zu rekonstruieren (232), weil nur sie die ästhetische Erfahrung als ganze sicherstellen würden. Dabei grenzt die Rede von "ästhetischer Prozeßhaftigkeit" oder auch "text spezifischer Formdynamik" (235) den Objektbereich notwendig auf dezidiert moderne, durch Selbstreferentialität charakterisierte Literatur ein. Deren Werke stellen möglicherweise zwar etwas, vornehmlich jedoch sich selber dar. Allerdings scheint die Parenthese im folgenden Zitat ein leichtes Unbehagen des Autors an diesem engen, beinahe normativen Verständnis moderner Literatur anzudeuten: "Ein modernes literarisches Werk, so könnte man sagen, ist die eigene Frage als Form" (234). Dieser Fokussierung korreliert im Gegenzug ein hochgradig variables Analyseverfahren, das sich im Begriff der "Lektüre" verdichtet (8 u.ö.) und somit zugleich seine im wesentlichen poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Voraussetzungen erkennen lässt.

Theoriegeleitete Lektüren im besten Sinne offerieren die insgesamt sieben Aufsätze allemal, wobei sich exemplarisch zeigt, dass der Durchgang durch die Dekonstruktion die Literaturwissenschaft insgesamt zu einem genaueren Lesen erzogen hat. Denn hier sieht man einen inspirierten und reflektierten Leser am Werk, dem die theoretischen Rahmenbedingungen seiner Untersuchungen ebenso präsent sind wie die ästhetischen Fakturen jedes einzelnen der analysierten Werke. Das Spektrum der Analysen reicht von Kontingenz bei Laurence Sterne über poetologische Zeitsemantik bei Goethe, den Zusammenhang von Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman bei Wieland, Goethe und Novalis, E.T.A. Hoffmanns Erzählmuster in Prinzessin Brambilla bis hin zum Verhältnis von Mimesis und Simulakrum in der romantischen Lyrik, dem Problem des Scheins in Kafkas Schweigen der Sirenen und schließlich Hofmannsthals Opfer-Konzept im "Chandos"-Brief. Die zwi schen 1991 und 2005 entstandenden Texte sind alle bereits an anderem Ort publiziert worden; [End Page 417] außer dem Nachwort hat der Autor dem Band keinen Originalbeitrag hinzugefügt, was sicher wünschenswert gewesen wäre. Das Buch bietet folglich Lesefrüchte in einem doppelten Sinne.

Die zum Teil grundverschiedenen Gegenstände erhalten nun sowohl durch die Unterstellung ihres durchgängig selbstreferentiellen Charakters als auch durch die gewählte methodologische Perspektive einen gemeinsamen Fluchtpunkt; dass sich hierbei die Selbstreferentialität je nach Darstellungsmodell immer wieder anders realisiert, insbesondere in narrativen Texten, spricht Wellbery zwar nicht aus, es gehört jedoch zu den wichtigen indirekten Einsichten, die eine Gesamtschau seiner Überlegungen vermittelt. Hinzu kommen wiederkehrende Problemlagen, Strukturelemente und Denkfiguren, die die Kohärenz des Zugriffs gewährleisten, wie etwa Fragen nach Ursprung und Vaterschaft, nach Kontingenz und Sinnentzug oder nach Referenz und Spiel der Zeichen. Der in Anbetracht dieser Stichwörter naheliegende Verdacht, hier dienten die Werke womöglich nur zur Verifikation dekonstruktivistischer Theoriebildung, kann weitgehend ausgeräumt werden, sobald man sich auf die konkreten, stets wohlbegründeten Argumentationen einlässt.

Trotz des gleichmäßig hohen Niveaus der Beiträge scheinen mir zwei Texte herauszuragen, nämlich diejenigen zu Sterne und zu Hofmannsthal. Am Beispiel von Tristram Shandys Geburt erörtert Wellbery einerseits das Problem der Daseinskontingenz im Horizont der Aufklärungsdiskurse und rückt andererseits die narrative Struktur des Romans in ein neues Licht, indem er sie statt vom Begriff der Digression von dem der Unterbrechung her erschließt (11ff.). Diese Vorentscheidung gestattet eine Fülle neuer Einsichten über die Verschränkung von Darstellung und Dargestelltem, deren folgenreichste zweifellos darin besteht, dass nicht Walter Shandy, sondern Yorick der Vater des Protagonisten sein muss; das hat die Forschung zwar schon vermutet, doch Wellbery kann es plausibel begründen (11ff. und 21f.). Dergestalt findet der schier unendliche Witz des Romans seinen vergnügten Widerpart im Scharfsinn des Interpreten.

Auch im Falle Hofmannsthals...

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