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  • Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens
  • Barbara Sandig
Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Herausgegeben von Fritz Hermanns und Werner Holly. Tübingen: Niemeyer, 2007.426 Seiten. €108,00.

Das Thema des Bandes wurde 2003 von Fritz Hermanns eingebracht. Es lag gewissermaßen in der Luft: 2004 gab es auf dem Münchner Germanistentag eine gleichnamige Sektion, aus der der Band hervorging, und 2005 lautete das Thema der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache Text—Verstehen. Grammatik und darüber hinaus (Hrsg. H. Blühdorn, E. Breindl, H.U. Waßner. de Gruyter, 2006). Hermanns differenziert 2003 in "theoretische Hermeneutik," die die Grundlagen legt, "empirische Hermeneutik," die erschließbares Verstehen und beobachtbare Interpretationen beschreibt, "didaktische Hermeneutik" mit Empfehlungen zur Optimierung von Verstehen und Interpretieren und "praktische Hermeneutik" als tatsächliches Verstehen oder Interpretieren. Schwerpunkte des Bandes bilden die theoretische und Methoden empirischer Hermeneutik.

Den Kontext bildet eine Linguistik, die auf linguistischer Pragmatik, Text- und Gesprächslinguistik basiert und sich ganzheitlich (holistisch) versteht, d.h. die Vielfalt der jeweils kommunikativ relevanten Zeichen ist einbezogen: Prosodie, Mimik, Gestik, Proxemik usw., Typografie, Bild (-ausschnitt), Farbe etc., Symbolzeichen und Typisierungen verschiedenster Art. Dabei werden auch oft die Kontexte, d.h. Voraussetzungen der Kommunikate und Umstände der Rezeption oder Wirkungen einbezogen. Denn Verstehen geschieht ganzheitlich. Diese linguistische Richtung versteht sich als kultur- und sozialwissenschaftlich. Seit etwa 2000 wird das linguistische Arbeitsfeld sukzessive ausgeweitet mit Titeln wie Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis (Hrsg. A. Linke, H. Ortner, P.R. Portmann-Tselikas. Niemeyer, 2003), worin auch der oben genannte Aufsatz von Hermanns publiziert ist; Sprachgeschichte als Kulturwissenschaft (Hrsg. A. Gardt, U. Haß-Zumkehr, Th. Roelcke. de Gruyter, 1999); Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik (Hrsg. D. Busse, Th. Niehr, M. Wengeler. Niemeyer, 2005) oder Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände (Hrsg. I. Warnke. de Gruyter, 2007) mit einem Beitrag von Hermanns über "Diskurshermeneutik" (187–210).

Im ersten, theoretischen Teil des Buchs spannt sich der Bogen von Einfl üssen der Philosophie mit Hegel, Schleiermacher, aber auch Wittgenstein, der Wahrnehmungsbzw. Gestaltpsychologie, ja sogar Neuropsychologie bis zu sprachwissenschaftlichen Vorgängern—beginnend mit Humboldt. Juristische Textarbeit wird als institutions [End Page 415] bedingter und auf reicher Intertextualität basierender Spezialfall eigens dargestellt (D. Busse).

Einen Grundpfeiler der Arbeiten bildet das prozessuale Hervorbringen und Rezipieren von Sprachlichem. Es geht nicht nur um das Verstehen und Deuten der Spracherzeugnisse Anderer: Thematisiert werden auch "autohermeneutische Leistungen" in der Überprüfung, dem Paraphrasieren, Korrigieren, Explizieren oder Ergänzen bisheriger eigener Rede im sprachlichen und nichtsprachlichen Kontext (und analog dem eigenen Geschriebenen) (L. Jäger). Die Autoren gehen davon aus, dass vollständiges Verstehen des Intendierten bei der Rezeption in aller Regel ausgeschlossen ist: Einerseits sagt der Sprecher nur ein Minimum dessen, was er meint, andererseits ist mit "Begleitbotschaften" (187) zu rechnen, ebenso mit individuellen Interessen und Wissensbeständen bei der Rezeption. Eine "Missverstehenshermeneutik" (W. Falkner) untersucht Arten von Missverständnissen und entsprechende Korrekturmechanismen kompetenter Sprecher. Es ist zu unterscheiden zwischen der Textbedeutung und dem Textsinn, der durch Rezipienten in ihren Kontexten konstruiert werden kann (J. Klein, A. Gardt). Das Verstehen von Äußerungsfragmenten und vorläufiges, "präsumptives" Verstehen, das noch korrigiert werden kann (F. Liedtke), wird ebenso thematisiert wie Empathie (F. Hermanns) als Voraussetzung für das Verstehen wie für das Sichverständlich Machen, als Fähigkeit sich verstehend in Personen und (fiktionale) Texte hineinzuversetzen: "Texterleben" (F. Hermanns), aber auch Redeerleben (J. Klein).

Der empirisch-methodische Teil beschäftigt sich kritisch aber auch konstruktiv mit derzeitigen Methoden linguistischen Interpretierens (A. Gardt), zum anderen mit einer Vielfalt linguistischer Gegenstände: politische Rede, literarischer Dialog (Fontane) und literarische Erzählung (Bobrowski), Medienberichterstattung mit Bildern und politischer Werbefilm als Sprache-Bild-Komposition, Hermeneutik von Schlüsselbegriffen in Diskursen mit verschiedenen Methoden. Dies zeigt exemplarisch, wie verschieden die Gegenstände linguistischer Hermeneutik sein können (vgl. 241f.): oberhalb der Ebene selbstständiger Kommunikate auch Diskurse als thematische Zusammenhänge unterschiedlicher Texte und Textsorten verschiedener Autoren, unterhalb kommunikativer Ganzheiten Teilausschnitte davon, aber auch Lexeme als Schlüsselwörter und deren differenzierte Bedeutungserzeugung in thematischen Zusammenhängen.

In diesem Teil des Buches wird deutlich, dass es die alleinige linguistischhermeneutische Methode nicht...

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