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Reviewed by:
  • Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell
  • Gerhard Sauder
Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell. Von Beda Allemann. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Eckart Oehlenschläger. Bielefeld: Aisthesis, 2005. 429 Seiten. €29,00.

Beda Allemann (1926–1991) hat seit den sechziger Jahren an dieser Monographie gearbeitet. Er hielt sie für sein wichtigstes Werk. Mehrfach gilt ein “zu spät” für diese Veröffentlichung aus dem Nachlass: Strukturanalytische Untersuchungen galten schon um 1990 nicht mehr als der letzte Schrei; selbst ein Erscheinen dieser Kleist-Studien [End Page 297] vor Allemanns Tod hätte Spuren des langen Entstehungsprozesses, der inhärenten “be-stimmten Ungleichheiten” nicht übersehen lassen. Für den Druck hatte der Verfasser noch selbst die Einleitung und die Einzelanalysen (I. Teil) vorbereitet; an dem um-fangreichen II. Teil hat er bis zuletzt gearbeitet—über 100 Seiten mehr oder weniger ausformulierter Passagen werden im “Anhang” mitgeteilt.

Leitfrage ist das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit, die Entdeckung einer thematischen Grundformel, der ‘Antizipation’ als ‘Struktur’ oder ‘Konstruktion’ in Kleists Dramen. Das Phänomen der potenzierten Vorwegnahme, der ‘Antizipation,’ ist in unterschiedlicher Prägnanz in allen Dramen nachweisbar und markiert die innere Gespanntheit und Antithetik des Werkes. Wie die Existenz Kleist’scher Protagonisten völlig auf ‘Vorwegnahme’ gegründet ist, zeigt das Beispiel der Penthesilea besonders deutlich: Gerade in diesem Werk ist die “göttliche Erscheinung” eine Antizipation traumhafter Natur, die aber auch die Existenz der Betroffenen im Ganzen prägt. Auch für Alkmene, die der Täuschung erliegt, ist die Antizipation an Wahrheitsgehalt jeder möglichen Wirklichkeit überlegen. Kleists Helden und Heldinnen erliegen ihrem Traumbild. Da dramatisches Geschehen—bei aller Bindung an die Bühnengegen-wart—zukunftsbezogen ist, bezeichnet Antizipation die Gesamtheit der Techniken, die ein Bühnenwerk zum Ende der Handlung hin treiben.

Kleists Antizipations-Formel geht über die bewährten Verfahren der Voraus-deutung hinaus; sie überbietet den technischen Kunstgriff durch Potenzierung. Den zentralen Traumvisionen und Aspekten des Visionären bei Kleists Helden fehlt der Charakter der unheildrohenden Vorwarnung. Sie scheinen eher mit den Apotheosen des barocken Festspiels verwandt; gemeinsam ist ihnen die Aura des Überirdischen. Die Antizipation prägt die Kleist’schen Helden von Grund auf und ist ihre zentrale Be-stimmung. Kleists Dramaturgie reflektiert die Bedingungen der Möglichkeit antizipatorischen Handelns. Dadurch wird ein geradezu stationäres Aufbauprinzip begründet. Kleists Helden haben keinen Spielraum (vgl. Guiskard). Sie blockieren sich selbst in ihrer absoluten Antizipation.

In den Erzählungen erscheinen die konstruktiven Zusammenhänge des Dramas gelockert. Aber die zukunftsgerichtete Antizipation der Dramen wird in den Erzählungen zu einer antizipatorischen Fixierung aus der Vergangenheit heraus. Auch sie sind reich an Vorwegnahme-Motiven, aber der traumhaft-visionäre Aspekt ist selten so dominant wie in den Dramen.

Die Analyse der Stücke fasst je zwei zusammen—unter “Frühe Trauerspiele” den dramatischen Erstling Familie Schroffenstein und Robert Guiskard, das Fragment. Die frühe Tragödie verblüfft durch handwerkliche Sicherheit, psychologische Motivierung, aber auch Peinlichkeiten in den Liebesszenen. Das Stück lebt aus einer konsequenten Symmetrie der Abläufe, einer alles mitreißenden Präzipitation. Grundfigur des dramatischen Konflikts ist eine sich katastrophal zuspitzende Annäherung in zwei Hauptbereichen, der Familien- und Liebestragödie. Die drei Antizipations-Szenen (III / 1, Brautnacht, Eröffnungsszene) werden ausführlich analysiert. Das Stück kann als die durch falschen Verdacht antizipierte Selbstvernichtung der Familie Schroffenstein verstanden werden.

Die Motive von Robert Guiskards Handeln sind aus der Rekonstruktion der ersten zehn Auftritte kaum zu erkennen. Fest steht die Entschlossenheit des Norman-nenherzogs, Konstantinopel zu erobern. Falls er einer Weissagung vertraute, wäre dies ein für Kleist spezifisches Antizipationsmuster. [End Page 298]

Die beiden Lustspiele verbindet bei aller Verschiedenheit der gemeinsame Sachverhalt, keineswegs eine konventionelle Disposition durchzuspielen. Kleist versucht eine potenzierte Form des Dramas zu verwirklichen. Für den Zerbrochenen Krug wählt er das Modell der analytischen Dramenform mit dem Dorfrichter Adam als der eigentlichen Hauptfigur; das Liebesdrama tritt zurück. Eve ist als handelnde Figur blockiert. Spuren der Antizipationstechnik sind in Adams Traum zu finden; darin nimmt er seine Selbstentlarvung vorweg. Die schwache Antizipationsformel gereicht diesem Lustspiel zur Kritik; auch der nicht bühnentaugliche “Variant” konnte keine Abhilfe schaffen.

Durch die Technik der Reduplikation der Handlung übertrifft...

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