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  • Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein
  • Wolfert von Rahden
Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein. Von Jürgen Trabant. München: Beck, 2006. 356 Seiten. €16,90.

Den König Mithridates VI. von Pontos in Kleinasien (vermutlich ca. 132 bis 63 v. Chr.) hatte sich Jürgen Trabant ursprünglich als Namengeber für seine ebenso spannende wie informative Geschichte des Sprachdenkens gewählt: Eine gebundene seitenidentische Ausgabe des Bandes erschien bereits 2003 unter dem Titel Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens bei Beck. Berühmt war der König nicht nur für seine militärischen Fähigkeiten, die er mit seinem hartnäckigen Widerstand gegen das Imperium Romanum bewies, dem er in drei erbitterten Kriegen die Stirn bot, sondern auch wegen einer anderen Gabe: seiner erstaunlichen polyglotten Sprachkompetenz. So soll er—je nach Quelle—zweiundzwanzig, fünfundzwanzig oder gar fünfzig Sprachen beherrscht haben. Anders als die Römer des universalen Imperiums, die nur ihre eigene Sprache sprachen und sprechen wollten, konnte Mithridates in der jeweiligen Sprache mit den Völkern und Soldaten seines Reiches reden.

"Seine Vielsprachigkeit und die Opposition gegen Rom (das Universale Reich, die Universale Kirche, die Universale Sprache) sind die Gründe dafür, daß auch das vorliegende Buch den Mithridates noch einmal aus der Versenkung holt" (10). Der Autor verweist auf Conrad Gesners Mithridates oder über die Verschiedenheit der Sprachen (1555)—eine kleine Sprachenenzyklopädie, die Mithridates dem römischen Imperium entgegenstellt. Trabant hingegen entscheidet sich nicht für das römische Reich, sondern für das biblische Paradies als Gegenpol, denn auch hier existiert nur eine (oder vielleicht gar keine?) Sprache.

Unerwähnt bleibt allerdings, daßes in der Sprachgeschichte durchaus auch Mutmaßungen über die Mehrsprachigkeit des Paradieses gab: Anders Kempes Schrift Die Sprachen des Paradieses, das ist Gegebene Anleitung der Natur, zu erkennen, was vor Sprachen im ersten Anfange der Welt im Paradiese [. . .] geredet worden (1683) etwa verlegt die Sprachenvielfalt bereits in den Garten Eden. In Kempes Paradies spricht Gott schwedisch, Adam antwortet ihm dänisch, und die Schlange verführt Eva auf französisch. "Der Garten Eden und Babel [. . .] haben eine fundamentale Bedeutung für das europäische Sprachdenken" (21). Gegen die negative—als Strafe—bewertete Verschiedenheit, die als Sprachverwirrung ihren schlechten biblischen Auftritt hat, wird die göttlich inspirierte universelle Verständigung als Alternative und Ausweg angeboten: im Alten Testament als lingua adamica (als paradiesische Einheit), im Neuen Testament im "Pfingstwunder" als Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung durch "Ausgießung des Heiligen Geistes" (als Einheit in der Verschiedenheit, denn die unterschiedlichen Sprachen bleiben bestehen). In der Figur des Mithridates [End Page 554] erfährt der Aspekt der sprachlichen Verschiedenheit und Vielzahl jedoch eine positive Umwertung, wie sie in der Schrift von Gesner, aber ebenso in jener vierbändigen "Sprachenkunde" mit dem Titel "Mithridates" zum Ausdruck kommt, in der Johann Christoph Adelung und Johann Severin Vater auch das "Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten" aufgeführt haben.

Mithridates und das Paradies bilden eine elliptische Figur, zwischen deren beiden Brennpunkten sich das europäische Sprachdenken bewegt. Indem der Titel des Trabant-Buches den pontischen König jedoch "dem Paradies nicht nur gegenüberstellt, sondern in das Paradies hineinstellt, soll eine [. . .] Lösung der Opposition angedeutet werden: Mithridates im Paradies" (10).

So plädiert der Autor in der Frage Vielsprachigkeit vs. Einsprachigkeit nicht alternativ für eine Seite, auch wenn seine Sympathien unüberlesbar den sprachlichen Verschiedenheiten gelten. Vielmehr geht es ihm um "die Vermittlung von Verschiedenheit und Einheit" (11). Das Buch versteht sich als "Pamphlet—oder ein Epitaph—für ein Denken sprachlicher Diversität im kommenden globalen Paradies" (12). Die Vermittlungsfigur "Mithridates im Paradies" bedeutet, das Recht der vielen (Regional-) Sprachen zu verteidigen, ohne das Recht der einen Sprache (der lingua franca) zu bestreiten. Allerdings sei es dem Rezensenten erlaubt, einen kleinen Wermutstropfen in den pontisch-paradiesischen Wein zu träufeln, trat der kleinasiatische König doch nicht nur als polyglottes Genie, sondern auch als Verfasser eines Buchs über Gifte hervor (das auch ins Lateinische übersetzt wurde).

Als sein grundlegendes Motiv für das Schreiben des Buchs nennt Trabant die nostalgische Liebe "zu den schwindenden Sprachen" (ebd.), und diese...

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