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  • Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1945
  • Jost Hermand
Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945. Von Barbara Beßlich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007. 504 Seiten. €79,90.

Deutsche Habilitationsschriften haben meist den Vorzug einer kaum zu überbietenden Gründlichkeit. Dies trifft in einem besonderen Maße auf vorliegendes Buch zu. Es hat nicht nur eine stattliche Seitenzahl, sondern auch eine 47 Seiten umfassende, petit gesetzte Bibliographie und 1509 zum Teil recht umfangreiche Fußnoten, die sich nicht nur auf Quellenangaben oder die üblichen Vgl.-Verweise beschränken, sondern auch substantiell Neues bieten. All das ist bewundernswert und soll als wissenschaftliche Leistung in Zeiten theorieüberfrachteter, aber materialarmer Traktate, die sich trotz ihrer subjektiven Eigenwilligkeiten als "wissenschaftlich" ausgeben, keineswegs gering geschätzt werden. Im Gegenteil, hier ist eine Germanistin am Werke, die sich schon in den Jahren zwischen 2000 und 2006 mit drei weiteren Monographien als höchst produktive und geschichtlich bewanderte Forscherin ausgezeichnet hat.

Doch nun zum Inhaltlichen. Entspricht dies Buch den Erwartungen, mit denen man als Rezensent an eine solche Studie herangeht, oder ist es lediglich eine für die kritischen Augen der Freiburger geisteswissenschaftlichen Fakultät geschriebene Fleißarbeit, mit der sich die Autorin nach allen Seiten absichern wollte? Letzteres ist dieses Buch sicher auch. Doch es ist mehr, wesentlich mehr sogar, da es eine Stoff- und Perspektivenfülle enthält, die in einer knappen Besprechung wie dieser nur angedeutet werden kann. Beginnen wir dabei mit der methodologischen Ausrichtung des Ganzen, von der alles Weitere meist zwangsläufig abhängt.

Vom Thematischen her gesehen, gehört dieses Buch erst einmal in den Bereich der altehrwürdigen Stoffgeschichte. Aber es überbietet diese in vieler Hinsicht, und zwar nicht nur in der geradezu überwältigenden Vielfalt der herangezogenen Beispiele, sondern auch in der historischen Grundierung der jeweils behandelten Texte. Neben bereits bekannten Exempla der zahlreichen Napoleon-Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit denen sich eine historisch und stoffgeschichtlich orientierte Germanistik schon sehr langem beschäftigt hat, werden dabei auch eine Unzahl solcher Werke aus den folgenden Epochen bis zum Jahr 1945 herangezogen. Um hierbei auch ästhetische Gesichtspunkte nicht ganz zu vergessen, bemüht sich die Verfasserin zwischendurch—vor allem bei der Behandlung einzelner Werke von E. Th. A. Hoffmann, Heinrich Heine, Wilhelm Hauff, Christian Dietrich Grabbe, Karl Bleibtreu, Carl Hauptmann, Georg Heym, Gertrud Kolmar, Hermann Essig, Fritz von Unruh, Walter Hasenclever und Georg Kaiser—auch höchst geschickt die "Kunst der Interpretation" mit ihren formalästhetischen Gesichtspunkten ins Spiel zu bringen. [End Page 576]

Daß im Rahmen einer so weit gespannten Untersuchung die Napoleon betreffenden Äußerungen mancher Autoren und Autorinnen etwas verkürzt dargestellt werden, ließ sich in einer um stoffliche Vollständigkeit bemühten Darstellung wohl kaum vermeiden. Um dafür nur ein beliebiges Beispiel herauszugreifen: So hätte etwa bei der Behandlung Heines—von der hegelianisch-dialektisierenden Sicht in Nordsee III über die provokant-antirestaurative Perspektive im Buch Le Grand, der Kritik an Napoleons geheimen Aristokratismus in der Reise von München nach Genua bis hin zur kritischen Darstellung der Translatio der Gebeine Napoleon und damit einer möglichen Verschärfung der sogenannten Rheinkrise in den Lutezia-Berichten von 1840—der von der jeweiligen Situation abhängige Wandel seines Napoleon-Bildes etwas klarer herausgestellt werden können. Doch das verbot sich wahrscheinlich schon aus Umfanggründen.

Zudem ging es der Autorin ja letztlich, wie schon der Titel unmißverständlich zum Ausdruck bringt, in erster Linie um eine ideen- und mentalitätsgeschichtliche Erhellung des Napoleon-Mythos in Deutschland und nicht um kleinteilige Annotationen oder Ausflüge ins Positivistische. Und das gibt diesem Buch seine innere Stimmigkeit, die beeindruckend ist, aber notwendigerweise auch einige Probleme mit sich bringt. Zugegeben, dies ist die beste Arbeit, die je zu diesem Thema geschrieben worden ist. Punktum. Dennoch würde ich zu bedenken geben, ob bei einer solchen Darstellung die Überhöhung Napoleons ins Mythische, wie sie sich aufgrund mancher Texte anbietet, der wichtigste Aspekt sein sollte. Damit verflüchtigt sich das konkret "Politische" leider manchmal zu sehr ins "Geisteswissenschaftliche," zumal bei der Periodisierung der einzelnen Rezeptionsphasen auch relativ blasse Begriffe wie "Vormoderne" bzw. "Moderne" herumgeistern, die in einem gewissen Widerspruch...

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