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  • Studien zur Goethezeit. Herausgegeben von Rosemarie Schillemeit
  • Ehrhard Bahr
Studien zur Goethezeit. Herausgegeben von Rosemarie Schillemeit. Von Jost Schillemeit. Göttingen: Wallstein, 2006. 619 Seiten. €45,00.

Der Verfasser gehört zu einer Schule der westdeutschen Germanistik, deren Vertreter inzwischen emeritiert oder gestorben sind. Jost Schillemeit, der Ordentlicher Professor an der TU Braunschweig war, starb im Jahr 2002. Er war Herausgeber der Werke Wilhelm Raabes und Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe. Seine Generation, die in den fünfziger Jahren ausgebildet wurde und in den sechziger Jahren ihre Lehrtätigkeit aufnahm, zeichnete sich in ihren Veröffentlichungen durch großen Sachverstand, philologische Akribie und entschiedene Textnähe aus. Sie hatte die Forderung nach einer ideologiefreien Wissenschaft übernommen, die sie vielleicht besser verwirklichte als ihre Lehrer, die sich zum Teil in der NS-Zeit kompromittiert hatten und sich danach als Alibi auf die Werte der textimmanenten Interpretation beriefen. So stellt dieser Band ein Stück deutscher Wissenschaftsgeschichte dar mitsamt der Illusion der "Voraussetzungslosigkeit aller wissenschaftlichen Forschung" (Th. Mommsen).

Den Anfang bilden vier Studien über Lessings und Mendelssohns Briefwechsel über das Trauerspiel, Takt in der alten griechischen Dichtung, Prinzipien der Literaturtheorie Friedrich Schlegels und Interpretationsprobleme von Hölderlins Friedensfeier. Das Zentrum bildet der Hauptteil mit elf Aufsätzen über Goethe. Daran schließt [End Page 570] sich der Abdruck der vergriffenen Untersuchung zu Bonaventuras Nachtwachen von 1973 an, die den Braunschweiger Theaterdirektor August Klingemann als Verfasser identifizierte. Den Beschluß bilden Aufsätze über die Nachhut der Goethezeit (Heine, Mörike, Gutzkow, Fontane und Raabe) sowie "Philologische Streifzüge" zu einer Schopenhauer-Anekdote und zum Erlebnisbegriff nebst Rezensionen zu Büchern von Herman Meyer und Hendrik Birus.

Zahlreiche der Untersuchungen, besonders der Goethe-Aufsätze, stellen kritische Momente in der Diskussion von literarischen Texten wie Faust oder Wanderjahre dar. Aufgrund des Wiederabdrucks erhalten sie erneute Bedeutung in der Rekonstruktion der einzelnen Debatten. Man kann dies bei Schillemeits Diskussion der Entstehung des "Vorspiels auf dem Theater" beobachten. Ob das "Vorspiel" tatsächlich zur Eröffnung des Weimarer Theaters 1798 gedacht war und dann Wallensteins Lager Platz machen mußte, ist spekulativ, doch faszinierend in der reichen Auswahl der Quellen, die herangezogen wurden. Albrecht Schöne hat in seinem Faust-Kommentar Schillemeits Argumente übernommen. Schillemeit hat einen festen Platz in der Erforschung der Entstehungsgeschichte der Helena-Dichtung, wie aus den Aufsätzen über Goethes geplante Trimeter-Verwendung in der "Klassischen Walpurgisnacht," über Satyrspiel und tragische Tetralogien und über das Faustparalipomenon 164a zu entnehmen ist. Da die Argumentation sich vorwiegend auf Paralipomena stützt, die ihrer Definition nach nicht in die Endfassung eingegangen sind, ist Schillemeits Name eng mit der Erforschung der Vorgeschichte des Faust verbunden, was zur Würdigung seiner philologischen Leistung hervorzuheben ist. In dem Aufsatz über Judentum und Gesellschaft bei Fontane nimmt er im Gegensatz zu früheren Kritikern wichtige sachliche und zeitgeschichtliche Differenzierungen vor. Wenn er auch nicht über den Begriff der Fontaneschen Ambivalenz hinausgeht, so verhält er sich keineswegs apologetisch, sondern kritisch zu diesem Thema. Bei genauer Lektüre stößt man auf Worte, sagt er, "die man lieber nicht in Fontanes Briefen läse" (499).

Dieser Satz gibt zu erkennen, in welchem Maß Schillemeits Studien den Tugenden dieser Germanistengeneration verpflichtet sind. Der Herausgeberin und dem Verlag gebührt der Dank, mit diesem Band an eine Epoche zu erinnern, auf die man mit Nostalgie zurückblickt. Im Vergleich dazu hat es die heutige Germanistengeneration nicht leicht. Ihre Vertreter müssen erst einmal bei Barthes, Bourdieux, Derrida, Foucault, Geertz, Girard, Hall, Kristeva oder Ricœur nachlesen, bevor sie an die Arbeit mit den literarischen Texten herantreten können.

Ehrhard Bahr
University of California, Los Angeles
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